Donnerstag, 22. Dezember 2011

Überlebt!


„Überleben ist ein Beruf, der gelernt werden muss wie jeder andere.“
Hans Sahl
 
Julklapp überstanden, schönes Frühstück mit Spezialitäten aus der ganzen Welt überstanden. Viele Geschenke ausgetauscht und bekommen. Preise verliehen, Klassensprecher geehrt. Weitere Verdienste erwähnt. Justin und Dejan haben es geschafft, bereits vor der Feier irgendwas anzustellen. Zack von der Schulleitung nach Hause geschickt. Schade eigentlich, aber ich sage nicht nein. Die Feier hat eine Chance, nett zu werden.
Ich habe auch Geeeschenke bekommen! Habe mich gefreut wie ein kleines Kind. Kinder sind die dankbarsten Menschen. Jaaa, meine Mühe kommt an!! Blumen und Pralinen. Uuund, ganz wichtig: Karte mit Unterschriften. Gaaanz toll eingepackt. Manchmal spiele ich ja Sherlock Holmes. Wenn ich zum Beispiel Schriften vergleiche, um zu erfahren, wer welche Gemeinheiten geschrieben hat. Diesmal war Sherlockholmesologie gar nicht nötig. Betül hat so unauffällig wie möglich versucht, 1€ von jedem zu sammeln. "Eeeemre, du hast noch nicht bezahlt. Ok, nicht jetzt, schnell, Mrs. Johnson kommt." Mit Zettel und Häkchen. Süß. Ich war aber trotzdem -bisschen gespielt- sehr überrascht. Wirklich. Meine Klasse! Stolz!
Beim Frühstück habe ich netterweise die Pralinen aufgemacht. Jeder durfte sich eine nehmen. Doch Gerechtigkeit muss sein. Abdul ganz empört: „Mrs. Jooohnson, aber nicht jeder hat für Ihr Geschenk bezahlt, also geben Sie nicht jedem eine Praline!“ Danke für so viel Ehrlichkeit. Ich wünschte, sie käme an anderen Stellen öfter. Er fährt fort: „Und überhaupt, Betül, du hattest 21€. Blumen haben 13€ gekostet, Süßigkeiten 5€. Wo ist der Rest??“ Betül lässt es nicht auf sich sitzen. „Du Opfer, die Karte habe ich doch nicht dem Laden abgezogen! Kostet auch Geld!“ Oh man, müssen die das vor mir klären?? Übrigens, Abdul gehörte zu den Zahlunwilligen. Egal. Heute ist mir alles egal.
Nach dem Frühstück und 10.000 wann-können-wir-endlich-gehen-Fragen, 'Stadt, Land, Fluss' gespielt. Viel Spaß gehabt, viel neues dazu gelernt. Beruf mit 'O' ist natürlich Opfer und mit 'D' Dönermann. Natürlich. „Sie haben keinen Plan, der Mann, der Dönner verkauft und schneidet und so und Soßsalatalles drauf tut, der ist doch Dönermann! Ist doch!" Land mit 'E'? Na? „Egypten, ist doch klar digga.“ Und dann habe ich ganz viele neue Orte in der Türkei quasi durchwandert. „Ich schwör, yolyani koyi gibt’s. Glauben Sie mir nicht? Soll ich meine Mutter anrufen? Ich schwör, ich ruf sie an!“
Und eine Weisheit zum Schluss. „Ey, 2012 geht die Welt unter. Hat Ali gesagt.“
Ich brauche jetzt gaaanz viel Ruhe und noch mehr Schlaf! Winterschlaf und so. In 10 Tagen geht’s wieder los. Das sind fast zwei Wochen! Ohne Justin, Dejan, Can, Abdul & Co. 
Bis dahin: ein fröhliches und gesundes 2012! Der letzte macht das Licht aus.

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Nachsitzen ist doof


"Sag mal, Fränzchen, warum kommst du denn heute schon eine Stunde früher nach Hause?" "Ich mußte nicht nachsitzen!"

8. Stunde in der Schule verbringen. Ich glaube, ich habe das Gebäude noch nie so verlassen erlebt. Ich steige die Treppe hoch zu meiner Klasse. Stimmen. Laute Stimmen. Mist, warum mache ich so was auch? Mir doch egal, ob sie zu spät kommen!! Aber nein, die Verspätungen häufen sich. Wer eine Stunde verpasst, muss auch eine nachholen. Punkt. 

Ich komme in die Klasse und traue meinen Augen nicht. Dejan steht da und lächelt. 1. Er ist tatsächlich erschienen. 2. Er ist gut drauf. Der Wahnsinn! Den Tag muss ich rot im Kalender markieren. „Guten Tag, Mrs. Johnson. Was soll ich abschreiben?“ Ich bleibe bestimmt paar lange Sekunden wie erstarrt in der Tür stehen.
Ähmmm, was hast du mit dem wahren Dejan gemacht?“
- „Hä?“ Ok, er ist es, nur gut drauf.
Ich teile die Blätter zum Abschreiben aus. Ich gebe es zu, dumme Aufgabe. Aber die Texte sind schlau und vielleicht bleibt ja was hängen. 4 Jungen und 2 Mädchen sind gekommen. Ich habe sowieso viel mehr Jungen in der Klasse.

Plötzlich steht Dejan auf und geht zum Fenster. Draußen sind gefühlte -20°C. 
-“Wallah, die sieht mies aus!“
Deeejan, du wolltest doch eben noch was abschreiben!!“
- „Noch ein bisschen, ich guck gerade ihre T... ihren BMW an.“
Hör auf, so hinzustarren. Und überhaupt ein Mädchen besteht aus mehr, als nur aus Körperteilen die man angucken kann!“ Na super. Eigentlich hatte ich vor, diese Stunde schweigend zu verbringen und verbringen zu lassen.
- „Ich bin jetzt echt von Ihnen enttäuscht, Mrs. Johnson! Was denken Sie von mir? Ich gucke nur auf Augen und Charakter!“
Und benutzt keine Artikel!“
- „Ich hab ja auch Migrantenhintergrund!“ Hmm, hört man kaum.
Gut, dass wir drüber gesprochen haben! Jetzt kannst du dich ja zu den anderen gesellen und genauso schreiben!“
2 Minuten Ruhe. Ich schaffe es, 2 Sätze der ersten Erdkundearbeit zu korrigieren. Dejan hat Rededurchfall.
- „Mrs. Johnson, kennen Sie den Rapper (habe vergessen, wie er heißt)??
Nee.“
- „Eeeecht nischt?“
Echt nicht.“
- „Leben Sie denn hinterm Mond? Sogar meine Mutter kennt ihn!! Sie müssen seine Lieder hören. Also wenn sie die Witze da nicht verstehen, haben Sie keinen Humor. Und keine Ahnung vom Leben.“ Ich fürchte, ich habe keinen. Und hinterm Mond lebe ich auch noch. Genau das will ich in einer 8. Stunde hören!
Jetzt haben wir aber wirklich über alles gesprochen und ihr könnt in Ruhe schreiben.“
Es sind bestimmt 20 Minuten vergangen. Plötzlich...
Melisa, was machst du eigentlich hier?“
- „Ähmm, nachsitzen??!!“
Aber du bist doch gar nicht zu spät gekommen?“
- „Nicht?? Aber die anderen sagen, ich muss nachsitzen!“
Der kleine Emre: „Hahaha (lacht sich kaputt), haben wir dich übertrieben verarscht!“ Und dann passiert die Überraschung des Tages. Melisa, die bereits die Hälfte abgeschrieben hat, guckt kurz hoch und sagt: „Egal, ich schreibe jetzt weiter. Zu Hause ist langweilig.“ Es gibt einfach Kinder, die wollen nach der Schule nicht nach Hause. Traurig. Verstehe ich nicht. Ich sehe mein Bett schon vor mir. Aber nein, Dejan (der gerade mal 3 Sätze abgeschrieben hat) springt auf, rennt zu Melisa, reißt ihr das Blatt aus der Hand und schreit: „Bist du dumm? Du musst doch nicht schreiben. Gib mir das Blatt, ich sag habe ich geschrieben!“ Nicht schlimm, dass ich daneben stehe.
Deeejan, netter Trick, aber du hast es NICHT geschrieben!“
- „Woher wissen Sie das? Beweise, Beweise!“ Boah, ist es anstrengend.
Es ist doch gar nicht deine Schrift!“
- „Scheiße, hat sie mich erwischt!“ Na endlich, er hat Ruhe gegeben. Jetzt vergehen sogar 5 Minuten, bis er sagt: „Ah so, was ich noch sagen wollte.“ Tatsächlich? Du wolltest was sagen??!! „Justin will morgen für das Julklapp-Geschenk Kondome mitbringen.“ Oh nein, diese blöde Veranstaltung habe ich ja schon fast vergessen. Die muss man ja auch noch überleben.
Ich habe keine Kraft mehr. Ich beschließe, sie 10 Minuten vor Schluss zu entlassen. „Schreibt den letzten Satz zu Ende, dann könnt ihr gehen!“ Jubelschreie.
- „Mrs. Jooooohnson!“ Wäre auch zu schön gewesen, lieber Dejan, wenn ich deine Stimme heute nicht mehr gehört hätte. „Geben Sie zu! Sie lieben mich in wirklich!“
Habe ich schon erwähnt, dass ich Ferien will?? JETZT! Noch ein mal schlafen!






Dienstag, 20. Dezember 2011

Lehrer sind böse und mobben Schüler

„Lehrer: Ein Lebewesen, das einem Probleme erklärt, die man ohne ihn gar nicht gehabt hätte.“
Unbekannt 
     
Noch 11 Unterrichtsstunden bis zu den Ferien. Nichts geht mehr. Ich bin platt, die Schüler sind platt. Sogar das Topfblümchen auf meinem Tisch ist platt. 
 
Heute fast die Welt gerettet. Prügelei auseinander genommen. Schüler zur Schulleitung geschickt. Mütter angerufen. Einen Schüler beim Schwänzen erwischt. Mutter angerufen. Dejan eine Standpauke gehalten, weil er zum fünften Mal innerhalb der letzten zwei Wochen zu spät kam. Mutter nicht angerufen. Die Mutter, die man meiden sollte, meidet man eben. Beim letzten Verspätungsanruf bei ihr, musste ich mir anhören: „Danke, dass du anrufst. Er hat nicht verschlafen, er war wach und wollte nicht aufstehen.“ Ahhh, na dann! Wahrscheinlich muss ich noch bei ihm anrufen und sagen: „Lieber Dejan, würdest du biiiitte aufstehen, mir die Ehre erweisen und in die Schule kommen?“ Diese Lehrer! Kümmern sich überhaupt nicht! (Siehe 'Mutterliebe')! Also Dejan zum Nachsitzen verdonnert.
Herzlichen Glückwunsch, du hast am Mittwoch in der 8. Stunde Nachsitzen gewonnen!“ (Eigentlich Strafe für mich, ich muss Aufsicht führen.)
- „Hä?“
Du musst nachsitzen, weil du heute zu spät kamst!“
- „Hä? Aber ich war doch gestern pünktlich!“
Aber H-E-U-T-E nicht! Und letzte Woche auch nicht!“
-„Isch komm nischt.“ Hmmm, ich überlege. Und wenn nicht? Seine Mutter anrufen? Ja genau...
Klar, wer eine Stunde verpasst, muss sie nachholen! Gerechtigkeit und so!“
- „Mies unfair, die anderen waren auch unpünktlich.“
Die anderen werden dir auch Gesellschaft leisten.“
- „Oh.“ Pause „Ohne Sinn, Sie mobben mich.“ Zack. Keine Argumente mehr. Lehrer sind schon gemein und böse.
Jetzt wo wir das geklärt haben, kann man ja Unterricht machen.
- „Mrs. Johnson, können wir spielen??“
Nö. Ich habe noch 3 ganze Tage Zeit, um Unterricht zu machen! Betül!! Kaugummi raus!“
- „Warum?“
Weil du gerade gegen die Schulordnung verstößt und das weißt du genau!“
- „Maaan, das ist doch nur ein Kaubonbon!“ Entschuldige, dass ich das Ding in deinem Mund nicht genau genug analysiert habe.
Can, Jacke aus!“
- „Aber mir ist kalt!“
Du hast ja immer noch kein Buch auf dem Tisch? Und besitzt du so etwas wie ein Blatt?“
- „Hab ich nicht. Ich dachte, wir machen nix mehr. Nur spielen oder chillen oder so!“
Chillen kannst du in den Ferien!“
- „Uhhh, Mrs. Johnson hat 'chillen' gesagt.“
Ich schreibe 5 Fragen an. Für mehr bleibt keine Zeit, nachdem wir geklärt haben, wem kalt ist und wer was im Mund hat. “Boaah, so viel?“ Nach gefühlten 40 Minuten: „Feeeertig! Sollen wir die jetzt beantworten?“ Wie lange kennen wir uns eigentlich schon? -“Nein, du sollst 10 Minuten drauf starren und dann Blümchen auf das Blatt malen!“ Er guckt mich mit ganz großen Augen an. „Eeeescht?“
Nichts geht mehr. Alle ferienreif. Sogar die bösen Lehrer.

Montag, 19. Dezember 2011

Welche Ausrede hast du heute?

„Alles wird teurer, nur die Ausreden werden billiger.“
Rudolph Bernhard

Der letzte Schulmontag im Jahr 2011. Welch Freude. Für alle Beteiligten. 
Heute musste meine Klasse einen Test in Erdkunde schreiben. Davor muss ich aber klären, wer warum zu spät kam. Warum ist eigentlich total egal. Zu spät ist zu spät. Aber wer weiß, vielleicht sind jemandem Außerirdische begegnet oder so. Es kommt besser, als erwartet.
Max, zur 3. Stunde!! Hat dein Wecker den Geist aufgegeben?“
-“Ähm, nein. Meine Katze wars.“
Was??“
-“Ich hab echt den Wecker gestellt. Aber in der Nacht hat sich meine Katze auf den Wecker gelegt. Also habe ich den nicht gehört. Istso.“ Das soll er mal seinem zukünftigen Arbeitgeber sagen. Oh man, was soll ich bloß mit diesen Unzuverlässigunpüntlichmirallesegalschülern machen? Keiner wars. Schon gar nicht man selbst. Komisch, dass ich es schaffe, jeden Tag um 7 Uhr in der Schule zu stehen.
"Özgür, warum sitzt du nicht auf deinem Platz?"
- "Aber ich will nicht neben der sitzen. Betül ist Radio."
"Was ist sie?"
- "Radio, sie ist wie Radio! Sie singt so ohne Pause und sie nervt mich übertrieben!!" Ich bringe Özgür doch dazu, sich neben Betül zu setzen. Ein Sieg mehr. 
Test ausgeteilt. "Ihr braucht kein zusätzliches Blatt, alle Fragen werden auf diesem Blatt beantwortet!" 
René: "Brauchen wir noch ein Blatt??"
- "Neeeein!!!" 
Aufgaben noch einmal erklärt. „Ab jetzt sagt niemand etwas, ansonsten Arbeit abgeben und eine 6 kassieren.“ Justin hat eine Riesenidee: „Wer ab jetzt was sagt, ist ein Hurensohn.“ 1 Minute herrscht Ruhe, bis Christina sich unbedingt mitteilen muss. -„Ey Scheiße. Ich hab so verkackt. Da war ich gar nicht da.“ Vorbei, die Klasse kriegt sich nicht mehr ein: „Christina, du Hurensohn (die weibliche Form klingt ja auch so komisch), du hast geredet!!“ Can meldet sich: „Was soll ich machen?“ Ich erkläre ihm die erste Aufgabe detaillierter. -„Ey, voll unfair, Mrs. Johnson, warum kriegt er Hilfe und ich nicht?“ Auf dieses Kommentar gehe ich erst gar nicht ein. Ruhe ist herrlich. 10 Minuten später. Christina meldet sich zu Wort. „Darf ich abgeben? Ich weiß nix mehr.“ Klar. Deine Note.
Nach 30 Minuten muss jeder abgeben. War ja auch nur ein Test. Dann kann ich ja schon mal einen Ausblick für 2012 geben. 
 
Nächstes Jahr ist in Ethik 'Jugendstrafrecht' als Thema geplant. Deswegen werden wir uns ein paar Verhandlungen im Amtsgericht anschauen.“ 
-“Wallah, einen Tag keinen Unterricht?! Mies geil, kein Museum. Andere gehen immer Kino, Bowling undso. Wir gehen immer Museum. Toooodeslangweilig. Gehen wir morgen?“
"Neeein, nächstes Jahr erst. Hast du nicht zugehört?"
-“Sehen wir dann dort diese Barbara?“
Barbara Salesch? Ich glaube nicht.“
-“Mrs. Johnson, wie viel verdient ein Rischter?“
Hmmm, keine Ahnung. 4000 €?!“
-“Cüüüs, sooo viel? Isch werd Rischter. Muss ich dann studieren?“ (Wenigstens nicht Rapper)
Zuerst brauchst du Abitur.“
- „Oh.“
Dann musst mindestens 5 Jahre studieren und am Ende eine richtig große Prüfung ablegen.“
- „5???“
Dann musst noch 2 Jahre unter Aufsicht arbeiten und dann noch mal eine Riesenprüfug machen.“
- „Übertrieben viel. Isch werd doch kein Rischter.“ Stimmt. Ich muss ihm zustimmen.
In dem Moment klingelt es. Trifft sich gut. Eigentlich wollte ich dieses Jahr nicht mehr über Berufe reden. Eigentlich nie wieder.
Zwei Stunden später treffe ich Aylin auf der Treppe. - „Haben Sie schon korrigiert?“ Natürlich. In Wirklichkeit bin ich Superman. Es weiß bloß keiner.
Ich gehe jetzt nach Hause. Korrigieren. Es bleibt spannend, kann jemand die Ausrede von heute überbieten?


Freitag, 16. Dezember 2011

Ich will Ferien!!! SOFORT!!


"Wer seinem Passbild ähnlich zu sehen beginnt, sollte schleunigst Urlaub machen." Vico Torriani


Geschafft! Im wahrsten Sinne des Wortes. Wochenende! Sind seit dem letzten Wochenende tatsächlich nur 5 Tage vergangen? Ich fühle mich um paar Jahre gealtert. Ich könnte bis Montag durchschlafen. Ich könnte zwei Tage lang boxen, um mich abzureagieren. Ich habe allerdings auch einen Grund zur Freude. Dieses Jahr kein Berufskunde mehr. Dieses Fach macht mich fertig. Reale Berufsvorstellungen nicht vorhanden. Selbstwahrnehmung auch nicht. Reicht.

Veränderungen in der Berufswelt. Heute- Metallberufe im Mittelalter, Industrie- und Informationszeitalter. „Nennt mir bitte 5 Berufe aus der Metallbranche!“ Ein kreativerer Einstieg mit Bildchen oder Kurzgeschichte oder so wäre momentan zu viel verlangt. Große Augen. -„Was?“ -„Was sollen wir machen?“ -„Können Sie die Aufgabe noch mal wiederholen?“ -“Ich war letztes Mal nicht da.“ (Danke für die Info, aber diese Ausrede hilft dir jetzt auch nicht weiter.) Verstehe, eine echte Herausforderung. Ich erkläre noch einmal, was ich möchte. Schweigen. Gelangweilte Gesichtsausdrücke. Und dann doch. Eine Meldung. Ein Aufschrei von René: „Ahhh, ich weiß! Darf ich sagen? Biiitte!“ Klar, darfst du, meldet sich ja sonst keiner. Ich nehme ihn dran. -„Das ist doch der Typ. Erzbischof??“ Ich will gerade zur Antwort ansetzen, da schreit Bekir: „Aller, ohne Sinn, voll das Migrantenkind!!“ Ich überhöre die Beleidigung. Ist ja auch nicht weiter wichtig, dass René nur deutsche Wurzeln in der Familie hat. Egal. 'Hund', 'Jude' oder 'Schwuchtel' passt ja auch nicht immer. Ich versuche es ein weiteres Mal mit der Aufgabenstellung. -„Ist dooooch.“ René gibt nicht auf. Ich schon. 'Erz' mit Metallen in Verbindung zu bringen ist natürlich schon mal eine Wahnsinnsleistung! Würdigen? Nö.

Ich teile ein Arbeitsblatt aus. Unruhe. Leerlauf. Murat: -„Mrs. Johnson, ist Küche guter Job? Ich will ihm (zeigt mit dem Finger auf Umut) beweisen, Küche ist kein guter Job!“ „Fangen wir damit an, dass Küche kein Beruf, sondern ein Betrieb ist, der sich eigentlich Restaurant nennt. Du meinst den Koch.“ -“Ja, meine ich auch. Er will Jobcenter.“ Jobcenter was?? Gehen, informieren, erzählen? Zum, im, über? Das lässt sich Umut natürlich nicht gefallen. „Was Jobcenter, ich schwör, ich brech dir dein Kopf! Verpiss dich aus meinem Blickwinkel!“ Natürlich. Schwerste Beleidigung, dieses Jobcenter. Die Diskussion entwickelt sich zum Gruppengeschrei. Dazu hat jeder was zu sagen. Murat sitzt ganz vorne. Trotz der Lautstärke von gefühlten 100.000 Dezibel kann ich ihn gut verstehen. Er sagt: „Voll geil, wir sind unbesiegbar im Laut-sein.“ Leider ja.
Dann meldet sich Nathalie. Nettes Mädchen. „Hier steht 'erzähle, was du über das Mittelalter weißt!' Wenn ich 'nix' schreibe, habe ich Frage beantwortet? Kriege ich dann einen Punkt?“ Natürlich, du kriegst eine glatte 1 und ein Lob aufs Zeugnis.

Ich beende die Stunde mit paar organisatorischen Ansagen. Wir müssen klären, ob Julklapp stattfinden kann. Ich bin dagegen. Sie sind unzuverlässig, die Hälfte der Klasse ist nicht da. Wird kompliziert. Dann bekommt ein Kind kein Geschenk und ich muss es trösten. Letztes Jahr haben sie einander Sprühdeos geschenkt. Nach der Weihnachtsfeier stank die Klasse unerträglich und ich war nur damit beschäftigt, zu gucken, dass das Zeugs nicht in die Augen kommt. Ich bin dagegen. Aber sie überzeugen mich. Eigentlich sind sie ja niedlich und ich mache ihnen so gerne eine Freude. Fast allen. Mal gucken, wie viele nächste Woche ohne Geschenk nach Hause gehen.

Ich versuche krampfhaft Justin den ganzen Tag zu ignorieren. Und er mich. Er hat nicht mal ein Blatt ausgepackt, singt, lacht lauthals, brummt irgendwas vor sich hin, springt durch die Klasse und schreit. Er schafft es zwei seiner Nachbarn abzulenken. Der Rest bleibt standhaft. Anstrengend. Warum sollte er sich auch Mühe geben? Passiert ja nichts. Im Schulamt hat der „nu-nu-nu“ gemacht und versprochen, „wenn ich mich bessere, darf ich in der Schule bleiben“. Bessern? Mit der dicksten Akte Deutschlands?? Macht ja nichts, dass wir den ganzen nötigen Weg mit Konferenzen & Co schon gegangen sind. Es fehlt nur noch dieser letzte Schritt. Uns sind die Hände gebunden. Keinerlei Unterstützung von oben. Am Ende der Stunde bin ich geladen, ich koche innerlich. Zeige es natürlich nicht, Lehrer sind Schauspieler. Was muss eigentlich noch passieren, damit jemand fliegt? Die ganze Klasse leidet. Er ist ein Vorbild. Wenn schon Justin nicht fliegt, kann mir doch nichts passieren. Nach dem Unterricht erscheinen 3 nicht zum Nachsitzen. Warum auch? Kann doch nichts passieren. Sie haben vor nichts Angst. Ich schon. Vor der Machtlosigkeit. Vor der Grenzenlosigkeit. Davor, mich in zehn Jahren reif für die Rente zu füllen.

Gut, dass ich zwei Jahre lang im Referendariat akribisch gelernt habe, wie man eine 45-Minuten-Stunde perfekt vorbereitet und durchführt. Feinziele, Grobziele... blabla. Mein Hauptziel heute: jeder soll den Schultag überleben und gesund nach Hause kommen. Es wäre besser, mir hätte jemand beigebracht, wie man mit lernunwilligen, Verweigerern, Schwänzern, Respektlosigkeit, unverschämten Eltern und nicht beschulbaren Kindern umgeht. Ohne Hilfe. Und vor allem, woher man die Zeit nehmen soll, sich um die netten, willigen, guten Kinder zu kümmern. Die gibt es nämlich. Viele. Auch in meiner Klasse.

Ich brauche s-o-f-o-r-t Ferien!!! Wäre schön, wenn ich wenigstens meinem Passbild ähnlich sehen würde. Ich fürchte, mein Gemütszustand ähnelt der 3-Tage-wach-Stimmung.

Mittwoch, 14. Dezember 2011

Mutterliebe


"Das größte Geschenk, das mir meine Mutter gegeben hat, ist ihre bedingungslose Liebe zu mir."
Cindy Crawford

Mittwoch ist ein guter Tag. Ich habe zur vierten Stunde an. Um 14.05 Uhr sind es nur noch zwei Tage bis zum Wochenende. Ich unterrichte eine Doppelstunde in einer 10ten Klasse. Serientag auf Pro7. Herrlich. Nur nicht heute.


Um 09.00 Uhr steige ich aus dem Bus. Dejan steigt ein. Zum Glück sieht er mich nicht. Tausende Fragezeichen in meinem Kopf. Arzttermin? Kann nicht sein, ich weiß nichts davon. Bauchkopfschmerzenmiristsoschlechtichmussjetztsofortnachhause? Er ist nicht der Typ dafür. Es kann nur eins sein. Er hat Scheiße gebaut. Überraschung. Ich komme in die Schule und gehe ins Sekretariat, um zu fragen was passiert ist. Davor sitzt Justin. Überraschung Nr. 2. Ich habe noch nicht mal mit dem Unterricht angefangen. „Guten morgen, Justin.“ Er würdigt mich keines Blickes. Trauer, wie soll ich jetzt bitte den Tag überstehen?? Im Sekretariat Hektik und Aufregung. Dejans Mutter, die man meiden sollte, war gerade da. Unterricht gestürmt, Lehrerin beleidigt, 3 Minuten ohne Pause geschrien. Ihr Sohn doch nicht, immer er, was soll das? Und überhaupt: „Wer bist du? Bist du neu (zu Lehrerin)? Ich kenn dich nicht. Ich ruf gleich Schulamt, Rechtsanwalt und so. Ihr kümmert euch nicht um meinen Sohn! Ich sage: Rede mit ihm, er soll nicht zu spät Schule. Und er wieder zu spät. Er kriegt Ärger! Die Klasse aber alle laut. Du Arschloch! Weißt du? In Bosnien. Mein Sohn. Er wär Präsident. Von Schule.“ Bitte? Ich kümmere mich nicht??? Ich soll darauf achten, dass er pünktlich aus dem Haus geht? Ich rede jeden zweiten Tag mit ihm. Meine kostbaren Pausen. Wie war die Woche? Nächste Woche muss besser werden. Ich höre mir das alles an. Ich bin entsetzt. So etwas wie Mitleid kommt in mir hoch. Für den Jungen. Frau MeinSohnhatnichtsgemachtdiesollmanmeiden scheint noch im Gebäude zu sein. Ich will jetzt auf keinen Fall von ihr angeschrien werden. Mein Kopf dröhnt. Ich habe noch nicht mal mit dem Unterricht angefangen. Aber Licht am Horizont. Heute 2 weniger zum Stören. Kurz aufatmen. Morgen früh sind sie wieder da.


Auf in den Kampf. Berufskunde. Tatsächlich etwas ruhiger. Plötzlich steht Bekir auf.
„Setz dich hin!“ - „Mrs. Joooohnson, ich habe doch nur eine Frage!“„Beende zuerst die Aufgabe, dann kannst du fragen.“ - „Ich schwör, ist wichtig.“ „Ok, frag.“ Er steht immer noch. -„Ich will Rewe Praktikum machen. Aber ich habe noch nicht gespricht mit Chef. Kann ich?“ Du hast noch nicht was?? Deine Bewerbung wird doch wohl hoffentlich jemand korrigieren, bevor du sie einreichst??!! Ok, ich muss es machen. Vormerken. „Naja, schreib eine Bewerbung und Rewe muss entscheiden, ob sie dich nehmen. -“Escht? Aber ich habe Problem. Ich hab dort Hausverbot, hab Scheiße gebaut undso.“ Dann ist es eine sehr sinnvolle Frage, Bekir. Und unheimlich wichtig. Ich glaube, er will sich unterhalten. Hauptsache der Aufgabe nicht nachgehen. Oder Hauptsache jemand hört mal zu. Er findet sich witzig. Wie immer. HA HA HA. „Dann könnte es schwierig werden. Frage beantwortet? Jetzt kannst ja endlich die Aufgabe bearbeiten.“ Ich entferne mich von seinem Platz. Es gibt weitere 23 Schüler, die betreut werden müssen. Er läuft mir nach. - „Krieg isch Problem, wenn isch mir Hitlerbärtchen aufmale?“ Booooahhh, das darf doch nicht wahr sein. - „Aber isch erzähl dann allen, ist Bart von Charlie Chaplin. Dann gehe ich Rewe und sage: (hebt seinen rechten Arm) rrrrraus von Superrrrmarrrkt!“ Wie soll dieses Kind jemals den Abschluss schaffen und einen Ausbildungsplatz bekommen? Von mir aus bei Rewe. Ich will nach Hause. Noch drei Stunden.
- „Ey, Mrs. Johnson,“ Ich hasse meinen Namen, wenn der Schultag beendet ist. Nachmittags kann ich ihn nicht hören. Und lass doch endlich mal das „ey“ weg! „Kriege ich Geld bei Praktikum?“ “Normalerweise nicht.“ -„Cüs, voll unfair. Mein Cousin hat auch Geld bekommen, als er bei meinem Vater im Laden gearbeitet hat.“ Na dann...
Diese Stunde ist noch längst nicht vorbei. Zu früh gefreut. - „Mrs. Joooohnson, sie hat meine Stifte weggenommen! Sagen Sie ihr was! Ey, du Behinderte, gib meine Stifte wieder her!“ Diesmal ist es Lukas. Er schreit durch die ganze Klasse. „Leider kann ich dir nicht helfen. Könnt ihr das nicht unter euch klären?!“ Er ist beleidigt und läuft rot an. - „Sie heulen doch auch, wenn Ihnen jemand was abzieht von Ihren Sachen und Tisch!!“ Ja genau... Passiert mir jeden Tag. Wer nicht dabei war, glaubts nischt. So!

Dienstag, 13. Dezember 2011

Ich schwör, Sie provozieren!

„Ich bin nicht provokant. Provokant ist das, was andere empfinden, wenn die Regeln zu starr sind.“ Gabriele Pauli


Zweite Stunde. Ich komme rein in die Klasse. Überall auf dem Boden Schalen von Sonnenblumenkernen. Ekelhaft. "Mohammed, nimmst du bitte den Besen und kehrst schnell durch die Klasse?" – „Ey nee, muss es sein?“
Fängt schon mal gut an. Mit einem Monolog meinerseits. Klasse muss sauber sein, was ist denn das für ein Eindruck, wenn jemand reinkommt, paar Meter weiter stehen doch Mülleimer??!! Siebte Stunde wieder Unterricht in derselben Klasse. Zack, Klassenbucheintrag der Mathekollegin: Während des Unterrichts wurden Sonnenblumenkerne gegessen. "Gut, dass ihr mir zuhört, verdammt!" Scheiße. Geflucht. Rausgerutscht. No-go. Das darf ich nicht. Ich darf nichts. Ich habe nur Pflichten, Schüler nur Rechte. 

Die ganze Klasse schreit: "Justin wars." Strenger Blick zu Justin, der strengste, den ich drauf habe. "Uhhh, Todesblick, Mrs. Johnson..." Und wieder: blablabla-Vertrauen-missbraucht-lebst-du-zu-Hause-auch-in-einem-Schweinestall-Nummer-blabla.. Oh oh, Glatteis, Mrs. Johnson. Justin rastet aus: „Wieso beleidigen Sie meine Familie? Sagen Sie, meine Mudda ist schmutzig?“ Rufe aus der Klasse: „Cüüüs, Sie haben seine Mudda beleidigt!“ Ich muss echt 5 Mal überlegen, was ich sage. Ich versuche mich zu erklären und bereue es gleich wieder. Ich: „Lieber Justin, ich wollte nur folgendes sagen. A. .. du sol...“ Er lässt mich nicht ausreden. „A, a, a, a, b, c,c,c, d,d,...“ Das Alphabet sitzt schon mal, die Grundschule war nicht umsonst. Justin ist nicht mehr zu bremsen. „Ich schwör, Sie provozieren. Wieso machen Sie das? Was sind Sie für ein Mensch?“ Regel Nr. 1: Keine Rechtfertigung vor einem Schüler. Niemals. Can muss natürlich - seinen eigentlichen „ich-hass-den-so-krass“- Feind unterstützen. „Ja, also Mrs. Johnson, Ihr Verhalten geht gar nicht. Ich glaube, ich muss Ihre Mutter anrufen.“ Er baut sich vor mir auf und droht mir mit seinem Zeigefinger. Er hat mir gerade noch gefehlt.

Ich: „Justin, du gehst jetzt mit mir raus.“ „Ist die cool. Gaaar nix mache ich, mir doch egal, was Sie machen.“ Stimme von Daniel: „Man, Justin, geh mal raus.“ Justin direkt: „Fick dich, du Knecht.“ Meine Geduld platzt allmählich. „Raus und direkt zur Schulleitung.“ „Nö.“ Ich beschließe ihn zu ignorieren und fahre mit dem Unterricht fort. Er sitzt und brummt vor sich hin: „..denkt, die ist cool.. Übertreiberin.. lass mich in Ruhe, alta...“. Die Klasse ist abgelenkt. Ich zum Klassensprecher: „Geh runter zur Schulleitung, sag ihm, er soll Justin hier abholen.“ Als hätte der Schulleiter nichts anderes zu tun.. Plötzlich steht Justin auf und schreit mich an. „Nerv ma’ nicht, ich gehe jetzt nach Hause.“ Endlich. Verletzung der Aufsichtspflicht, weil während der Unterrichtszeit. Mir egal. Justinfrei. Ich sage: „Ich empfehle dir auf dem Weg bei der Schulleitung vorbeizuschauen.“ Er knallt mit der Tür. Ich kann noch ein „Halt die Fresse“ hören. Ich könnte schreien. Zum Teufel mit der Pädagogik. Ich habe fast ein Jahr in ihn investiert. An ihn geglaubt, versucht ihn auf den richtigen Weg zu bringen, unzählige Gespräche geführt. Ich will, dass aus ihm was wird. Ich bin sauer. Ich könnte heulen. Nicht, weil ich beleidigt wurde. Damit kann ich leben. Er kommt damit durch. Jedes Mal aufs Neue. Nichts passiert. Was soll man machen? Tadel Nr. 127? Suspendierung für 3,4,6 Tage? Es gibt keine andere Schule für ihn. Erst mal kein Rausschmiss. Warum muss ich das ertragen? Es ist unerträglich. Keinerlei Konsequenzen. Wahre Geschichte.

Wenigstens kann ich jetzt ruhig Berufskunde machen. Es geht um den Traumberuf. Ich gehe durch die Reihen. Die meisten schreiben. Oder tuen so. Wow. Stille. Der Wahnsinn. Das hält Gülcan nicht aus: „Cüs lan, warum so leise?“ Wäre auch zu schön gewesen.

Eine Mädchenstimme. „Mrs. Johnson..“ Ich bin nicht mehr aufnahmefähig, dennoch: „Ja, Ayse?!“ „Mrs. Johnson.. ähm... haben Sie vielleicht ein Foto für mich?“ Ich perplex. Was wird das denn? „Du willst mein Foto haben? Wozu? Willst du es einrahmen und übers Bett hängen?“ Grins. Und noch mal grins. Ich ahne es schon... „Nee.. ich sammle Naturkatastrophen.“ Ist es ihr Ernst??? Sie kann sich kaum halten vor lachen. Ich muss zugeben, der ist gut. Ich überlege, wie ich kontern könnte. Viel zu müde. Geschafft. Ich muss lügen. „Der war nicht, Ayse.“ Abdul springt auf. „Uhhh, hat dich Mrs. Johnson gedisst!!“ Ayse: „Stooory, hat sie gaaar nischt!“ Ich überlege, was meine Mutter gemacht hätte, wenn ich zur Lehrerin so etwas gesagt hätte. Oder „halt die Fresse“. Ich überlege lieber nicht.

Ich warte aufs Klingeln. Mist, noch 10 Minuten. Ich schaffe es, die Stunde wieder zum eigentlichen Thema „mein Berufswunsch“ zu lenken. Die nächste Frage schafft mich endgültig. „Mrs. Johnson, haben Sie studiert?“ -„Natürlich!“ „Cüss, mieees schlau und so?“

Beim nächsten „wovon-bist-du-denn-müde-lehrer-arbeiten-doch-nur-bis-13-uhr-und-gehen-dann-schlafen-statement“ kann ich für nichts garantieren.

Montag, 12. Dezember 2011

Montag

"Rauher Montag, glatte Woche."
Sprichwort

Montag ist mein kurzer Tag. 4 Stunden. Eigentlich. Wäre da nicht die sechste Stunde in meiner Klasse. Sechste Stunde an einem Montag kann nur schief gehen und fühlt sich danach wie 3 Stunden mit 2 Klassen an. Ich frage mich immer, was meine Schüler während der zwei freien Tage machen. Am Montag sind sie durch und ich auch- nach der sechsten Stunde. Sie kennen keine Regeln mehr und scheinbar auch nichts anderes. "Ups, zu spät. Ups, Buch vergessen. -Tragen Sie mich jetzt ein? Biiiitte, war letztes Mal." Ich hatte heute eigentlich nicht viel vor in der Stunde, nur organisatorischen Kram erledigen. So ein Organisationskram nimmt eine Menge Zeit ein. Vor der Reform gab es noch eine Extrastunde für sowas. Klassenlehrerstunde. Braucht man auch- schließlich braucht man Zeit, um zu klären, wie Ali dazu kommt, Can Reißzwecken auf den Stuhl zu legen und warum Justin das unbedingt nachmachen muss. Man kann zumindest versuchen, es zu klären. "Walla, sind Sie Spielverderber (haaallooo, sehe ich männlich aus??), das war mies lustisch." Schade, Versuch gescheitert. Unterschriften einsammeln, Weihnachtsfrühstück planen, noch einmal fragen, warum die Einträge sich im Klassenbuch häufen, sie bitten, sich in den letzten 2 Wochen zusammenzureißen und kurz böse werden. Das war der Plan. Sowas muss man eben nebenbei erledigen. Neben dem vollgefüllten Rahmenlehrplan. Wer macht eigentlich diese Pläne? Die Menschen sollen sich mal meine Schüler anschauen. "Boah, schon wieder schreiben? Aller, ich bin mies müde! Muss ich? Können wir nicht einen Film schauen? Und warum muss ich wissen, warum Ludwig XIV. (gelesen: ähmmm... Luuudwig x... ähm, was steht da?) in dem Schloss da chillte?! Ich werd eh Rapper..."
Ich komme also in die Klasse. Alles wie immer. Geschrei, Geschubse, Beleidigungen. "Wieso sind Sie schon da, hat es schon geklingelt?" Ich freue mich. Heute keine Inhalte. Ansonsten Überforderung. Meiner Kräfte. 30 Minuten das Frühstück geplant. Geschrei.. 5 Minuten auf Ruhe warten... Geschrei. 5 Schüler auf einmal: "Haltet die Fresse!" -hilft nicht- "Seht ihr nicht, Mrs. Johnson wartet!" - hilft für 20 Sekunden. "Ey, ich bringe schon Gurken mit, denk dir ma selba was aus!" Wie können die "da oben" von mir verlangen, dass ich den Schülern von heute etwas über Mitose, tropische Regenwälder oder das Mittelalter beibringe? Eigentlich müsste jedes Fach "wie-komme-ich-durchs-Leben-ohne-mir-selbst-und-anderen-Leiden-zuzufügen" heißen. Und eigentlich bin ich 10 Minuten netto (wenn man Glück hat) damit beschäftigt, für Ruhe zu sorgen, Schüler auseinander zu nehmen und Schlimmeres zu verhindern. Stunde also überlebt. Quasi nichts geschafft. Morgen ist ein neuer Tag. Ich liebe meinen Beruf. Es gibt bestimmt einfachere Möglichkeiten ihn auszuüben. Nicht in Berlin.
Das neueste Schimpfwort lautet übrigens " du Migrant". Dazu irgendwann mehr. Jetzt brauche ich schulfreie Zeit. Habe ich mir verdient.

Sonntag, 11. Dezember 2011

26 wie 266

„Diese Mannschaft ist wunderbar. Wir lieben uns alle so sehr. Wir sollten heiraten.“
Oliver Bierhoff

Ich leite eine Klasse mit 26 Schülern. Meistens gehe ich aus der Stunde raus und habe das Gefühl, gerade mindestens 226 unterrichtet zu haben. Und jeder einzelne muss gemäß seiner Fähigkeiten gefördert werden. Wir müssen Schüler da abholen, wo sie gerade stehen. Ja... hmmm.. wo stehen sie denn?


Da gibt es Dejan. Sein Vokabular dreht sich nur um: "ey nerv mal nicht, isch schwör" oder "wenn Rihanna mich auf der Straße trifft, wird sie mich sofort heiraten" oder  "isch war da gestern mit so nem Mädchen, die war so.. na Sie wissen schon.. geil" oder "ich schwör, Sie haben was gegen Ausländer. Die ganze Klasse ist laut und nur isch krieg Ärger!" oder "Al hamdullillah". Das letzte heißt "Allah sei dank". Dejan wird Profi-Fußballer. Natürlich. Dafür muss man ja auch keine guten Leistungen in der Schule bringen. "Mir doch egal, ich scheiß auf Schule." Und nicht zu vergessen, das sexy Muskelshirt, dass bei -40°C trotzdem getragen wird. Die Hormone kommen halt aus sämtlichen Körperöffnungen.. Dejans Mutter versucht man zu meiden. Ihr Sohn ist der beste und immer unschuldig. Zu mir am Telefon: "Hallo meine Liebe! (Ich bin nicht deine Liebe!!) Danke, dass du anrufst, aber was soll ich machen? Weißt du, Dejan ist eigentlich lieber Junge, aber musst du streng zu ihm sein und ich erlaube: willst du, zieh ihm an die Ohren." Warum bin ich denn für das an-den-ohren-ziehen-verantwortlich??


Übrigens, wer nicht so viele Muskeln vorzuweisen hat, trägt auch bei +40°C eine Lederjacke. "Weißt du, sieht man breiter aus."


Jaja, die Berufswünsche. Rapper, Models, Schauspieler und natürlich Fußballprofis. Vielleicht sollte ich mir jetzt schon mal ein Autogramm besorgen, falls sie alle mal berühmt werden. Dann kann ich (stolz) sagen: "Der war mal mein Schüler!" Nur für meinen Berufswunsch gibt es kein Verständnis. "Cüüüüs, Mrs. Johnson, wie konnten Sie Lehrerin werden? Das kann doch keinen Spaß machen."


Dann habe ich Abdul. Abdul ist der größte im Schleimen, was leider nichts bringt, da seine Dreistigkeit mit dem Schleim nicht mal annährend zu begleichen ist. Abdul bewegt sich gerne. Auch während der Stunde. Auf den Stuhl steigend, durch die Klasse rennend, auch mal raus vor die Tür. Warum denn auch 45 Minuten auf seinem Stuhl verharren und aufpassen? Überbewertet... Eines Tages in Erdkunde überquert Abdul die ganze Klasse, stellt sich vor Emre und beginnt mit ihm ganz leise (immerhin!) etwas zu besprechen. Ich mindestens 5 Mal: Abdul, Abdul, Abdul... Nach dem 5 Mal: "Ja, was ist??" Ich: "Entschuldige die Störung, aber wir sind gerade in Äthiopien bei der Kaffeepflanze und nicht beim Chillen am Strand." Er: "Sehen Sie nicht? Ich bespreche hier gerade etwas!" Natürlich.. entschuldige vielmals, lieber Abdul. Wie konnte ich nur??? Auch er hat Eltern. Eltern, die ca. 8 Kinder zu Hause haben. Und die mir sagen: "Ah, wissen Sie (hey, jemand der weiß, dass man Menschen über 18 siezen sollte!), wir wissen doch auch nicht weiter, reden Sie doch mit ihm!!" Eigentlich wollte ich Lehrerin werden und nicht Mutter, Vater, Sozialarbeiter, Krankenschwester, Psychologin, ... Die Berufswelt verändert sich eben..


Zu den Spezies gehört auch Can. Er ist nicht beschulbar. Offiziell nicht beschulbar, mit beglaubigten Gutachten. Nach ausführlichen Erklärungen zu der Aufgabe, kann ich eigentlich immer davon ausgehen, dass er sich meldet und sagt: "Was soll ich machen?" Ich würde es ihm ja gerne noch einmal erklären, aber was mache ich dann in der Zeit mit den restlichen 25 und den Aussagen: "Er hat meinen Stift weggenommen", "Sie hat meine Mutter beleidigt und die ganze Generation meiner Familie" (hä??), "Er hat mich angesprochen, dann muss ich doch antworten" (und warum musst du dabei schreien??). Hiiiiilfe!


Dafür ist Can im Kästchen-ausmalen ganz groß. Das kann er sogar 90 Minuten hintereinander machen. Wenn er dran genommen wird, kommt erstmal ein lautes "Ja!", damit er auch die gesamte Aufmerksamkeit der Klasse hat. Die Antwort kommt meist in einer Babysprache, so dass die gesamte Klasse sich kaputtlacht und der Unterricht hin ist. Auf Can ist auch überhaupt kein Verlass. "Warum hast du den Tadel mit der Unterschrift nicht mit?" -Isch weiß nischt. "Wo ist das Heft?" -Isch weiß nischt. "Warum ist der Stundenplan nicht eingetragen?" -Ich weiß nischt. "Warum bist du zu spät?" - Kann isch doch nix dafür, dass der Bus zu früh kam.


Der letzte erwähnenswerte Kandidat ist Justin. Justin nimmt alles mit an Scheißebauen, was er kann. Justin hasst Lehrer, singt im Unterricht, produziert Geräusche, die man eigentlich keinem Menschen zuordnen kann und hat für sich beschlossen, den Unterricht zu sabotieren. Deswegen wird er auch jeden zweiten Tag vom Unterricht suspendiert. Auch Justin hat bestimmte Redewendungen verinnerlicht. Um ein glaubwürdiges Bild von Justin herstellen zu können, müssten folgende Beispiele reichen: "Bitte bitte, letzte Chance!" "Isch schwör, Herr Müller ist dumm- alles nur wegen ihm!" "Walla, Mandy hat gefurzt. Ihhhhh, wie das stinkt." Mandy daraufhin: "Was labberst du? Habe ich gar nicht! Halt die Fresse, du Spasst!" Der Rest der Klasse: "Iiiihhhhh" und hält sich den Pulli vor die Nase. Habe ich schon erwähnt, dass ich in einer Oberschule arbeite und nicht in der Vorschule? Die Unterrichtsstunde ist hin.
Justin wurde letztes Jahr 28 Mal getadelt. Ich glaube, dieses Jahr waren es bis jetzt nur 8 Tadel. Rekord! Deswegen: wenn er wieder mal so einen bekommt, dann schaut er gelangweilt hin und sagt: "Mir doch egal, noch einer." Unzählige Klassenkonferenzen, Strafversetzung in die andere Klasse, unzählige Gespräche mit den Eltern, Schulpsychologie, Jugendamt- alles umsonst. Justin hat eben für sich beschlossen: Ich habe keinen Bock auf Schule und die anderen sollen auch keinen geregelten Unterricht bekommen. Von der Schule schmeißen ist nahezu unmöglich. Welche Schule nimmt ihn denn freiwillig? Natürlich nur die, die auch so einen im Austausch abzugeben hat. Nachdem, versteht sich, man sich die Mühe gemacht hat, die ganzen Protokolle zu ordnen, unzählige Berichte zu schreiben -weil so von oben angeordnet- und nicht zuletzt Justin in der Schule auszuhalten. Also sitzt er da, lacht sich kaputt und ist sicher, dass ihm nichts passieren kann. Und ich muss sagen: er hat Recht.




Und da es in Berlin seit 1,5 auf Sekundarschulen kein Sitzenbleiben mehr gibt, gibt es auch keine Motivation bei den Schülern. "In der nächsten Klasse wird alles besser, die 9. Klasse ist ja vieeeeel wichtiger als die 8te. Bis zur 10ten komme ich sowieso problemlos. Und wieso muss ich überhaupt Mathe, Deutsch, Geschichte, Physik lernen? Ich werde doch sowieso Rapper!"






Ganz häufig müssen wir auch Verstöße gegen die Schulordnung bestrafen. So wie Kaugummikauen in der Schule, seine Cap aufbehalten oder im Unterricht das Handy benutzen. Und all das ist mit Diskussionen verbunden oder aber mit klugen Ratschlägen seitens der Mitschüler. So kommt Justin eines morgens -quasi mit dem Klingeln- kauend in die Klasse rein. Ich: "Das darf doch nicht wahr sein! Schon wieder kaust du einen Kaugummi? Raus damit!" Es klingelt, die Stunde hat begonnen. Justin: "Warten Sie!" Die ganze Klasse und ich warten gespannt. "Ich schlucke!" Daraufhin Abdul: "Ey, schluck ma nischt. Isch schwör, du bekommst Durchfall alter!" Justin: "Bist du behindert? Man bekommt doch keinen Durchfall davon!" Die Stunde ist hin, weil die "bekommt-man-durchfall-wenn-man-einen-kaugummi-schluckt-diskussion" den Rest der mittlerweile verbliebenen 35 Minuten ausfüllt.




Ich habe also 26 Schüler in der Klasse- unterschiedlichste Entwicklungsstufen, unterschiedlichste Leistungsniveaus. Während der eine mit dem Arbeitsblatt fertig ist, hat der andere noch nicht mal angefangen. Nicht mal heterogen ist der richtige Begriff für diese Zustände. Und jeder Lehrer ist alleine in der Klasse. Wie soll man das leisten? Die Idee hinter der Sekundarschule war ja, die guten Schüler sollen die schlechten mit hochziehen. Aber Überraschung! Es ist umgekehrt. Und wer leidet in erster Linie? Die Schüler! In der Hauptschule waren die Klassen maximal 16-Schüler-stark und doppelt gesteckt. Jetzt sind wir mit 26 alleine. Wie soll man da jeden einzelnen fordern und fördern? Gut durchdacht und Geld gespart.. Das ist doch das eigentliche Ziel der Reform gewesen?! Das ist das Ziel fast jeder Reform. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Schule verbessern, aber kein Geld dafür ausgeben wollen, funktioniert nicht.




Ich bin jung und frage mich, wie ich das noch weitere 30 Jahre aushalten soll.

Der Beginn

"Lieber Gott, bitte gib mir die Kraft, das zu ändern, was zu ändern mir gegeben ist. Gib mir die Geduld, das andere zu ertragen. Und gib mir die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden." (Hl. Theresa von Avila)


Guten Morgen! Nein, eher gute Nacht! Es ist 01.20 Uhr- Samstag Nacht. Endlich das langersehnte Wochenende. Fantastischer Samstag, wie er sein muss. Aufgewacht, im Bett gelegen, auf die Decke gestart, neues Spiel auf dem Iphone ausprobiert, gefrühstückt, wieder ins Bett gelegt. Toll, weit weg von den Montag-bis-Freitag-Sorgen. Abends mit Freunden was essen gegangen. Und zack: worüber geredet? Über Schule, über die anstrengenden Schüler, die unfähige Senatsverwaltung, die hilflosen, am Ende ihrer Kräfte agierenden Lehrer. Über mich. Es muss raus, ich will reden, ich will mich mitteilen, ich will, dass mein Job geschätzt wird. An einem Samstagabend. Super.
Ich bin jung, seit 18 Monaten mit dem Referendariat fertig. Seit 3 Monaten fertig mit den Nerven. Ich liebe meinen Beruf, ich mag meine Klasse, ich liebe mein Kollegium, ich freue mich fast jeden morgen auf die Arbeit. Wer kann das schon von sich behaupten? Ich arbeite in Berlin, an einer Sekundarschule. Ich arbeite in einem Problembezirk und ich hasse diese Reform, die seit 1,5 Jahren die Klassen- und Lehrerzimmer in Berlin ausfüllt. Sekundarschulen sind neu. Sekundarschulen vereinen Haupt- und Realschulen. Es gibt also nur noch Sekundarschulen und Gymnasien. Mit Sekundarschulen sollte alles besser werden. Angeblich. Hat uns jemand gefragt? Uns, die an der Quelle sitzen? Uns, die mittlerweile an der Quelle kriechen? Nach der Meinung der Menschen "da oben", die wohl das letzte Mal eine Schule von innen bei ihrer eigenen letzten Abiprüfung gesehen haben. Hmmm, geschätzte 30 Jahre? Auch wenn es nur 20 sind... Sekundarschulen sind eine Katastrophe- für die Schüler und für die Lehrer.
Ah ja, warum ich mich Mrs. Johnson nenne? Mrs. Johnson wurde 1995 von Michelle Pfeiffer in "Dangerous Minds" gespielt. Ich will auch so sein wie Mrs. Johnson. Stark, optimistisch und voller Tatendrang. Ich hoffe, es gelingt mir, denn ich bin jung und sollte diese Züge bei mir finden. Aber ich bin müde, ich kämpfe und gerate an Hindernisse. Ich bin genervt, ich komme gegen die Schüler nicht immer an. Ich will sie aber aufs Leben da draußen vorbereiten, ich wünsche ihnen nichts böses. Habe ich "ey, nerv mal nicht" verdient? Ich mag sie, wir haben ein gutes Verhältnis. Obwohl ich jung und schlagfertig bin. Ich habe noch alles vor mir, es macht mir Angst. 

Bald mehr. Und danke fürs "zuhören". Es hilft.