Freitag, 30. März 2012

Statistik


„Die Statistik ist wie eine Laterne im Hafen. Sie dient dem betrunkenen Seemann mehr zum 
Halt als zur Erleuchtung.“

Hermann Josef Abs


Bin ich fertig! Nur noch müde. Spätestens als ich vor einer Stunde im Supermarkt einkaufte und der Kassiererin ‚guten Morgen’ wünschte, war klar: Wie schön, dass wir jetzt Ferien haben. Und wie nötig ich sie jetzt habe. Die Zeit seit den letzten Ferien waren aber auch echt ... ähm ... sagen wir mal intensiv. 8 Wochen! Unfassbar viel passiert. Hier meine persönliche Statistik der letzten sieben Wochen. (Bei der ich wahrscheinlich auch nicht mehr alle glorreichen Ereignisse zusammenkriege.)


  •   8 Elterngespräche in der Schule geführt.
  • Dabei 3 Schüler zum Weinen gebracht.
  • Montag bis Donnerstag Telefonate mit Eltern. Jede Woche.
  •  3 Schüler beim Schwänzen erwischt. Viele andere wahrscheinlich nicht.
  • 5 Streitereien geschlichtet (viele weitere entweder nicht mitbekommen oder Versöhnung ausgeschlossen).
  •  2 Lehrer haben Kratzer auf ihren Autos nach der Schule entdeckt.
  •  4 Mal nach- und 6 Mal vorgesessen.
  • Fast 300 Tests korrigiert.
  • 150 Mal ‚Masha'Allah’ und ‘Alhamdulillah’ gehört.
  • 4 große Schlägereien miterlebt. Nie getraut, dazwischen zu gehen.  Zahlreiche kleine auseinander genommen.
  • Unterrichtszeit brutto: 45 Minuten. Netto: Höchstens 35 Minuten im Durchschnitt.
  • Jedem Schüler ein paar Mal erklärt, dass ich ihn oder sie auf keinen Fall bei Facebook als Freund/in annehmen werde.
  • 2 gefälschte Unterschriften ‚aufgedeckt’. 
  • 2 Mal mit dem Jugendamt und der Schulpsychologie kommuniziert.
  •  1 Mal mit der Polizei.
  •  50.000 Mal beleidigte Schüler beruhigt und ihnen erklärt, dass man es nicht auf sie ‚abgesehen’ hat.
  • Jede Woche mindestens 2 Mal „Deine-Mudda-Beleidigungen-sind-nichts-wert-Gespräche“geführt.
  • 20 Mal gesagt, dass wir keine Spielstunde machen können. Auch heute nicht.
  • Weitere 20 Mal überlegt, den Job hinzuschmeißen.
  •  Jeden Tag im Büro des Sozialarbeiters Informationen und diverse Ratschläge eingeholt.
  •   23 Mal darauf hingewiesen, dass es noch zu früh für hitzefrei ist.
  • Geschätzte 10 Mal dem Nervenzusammenbruch nah gewesen.
  • 10 ‚geklaute’ Bücher wiedergefunden. Überraschung.
  • Jeden Tag betont, dass Noten für die Bewerbung wichtig sind und Schüler mit vielen Verspätungen und unentschuldigten Tagen keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.
  • 12 Beleidigungen gehört, die ich noch nie vorher gehört habe. ·   (Letztens bei Facebook gelesen: Der moderne Satzbau: "Subjekt - Prädikat - Beleidigung - Alter". Stimmt absolut.)
  •  Jeden zweiten (vielleicht auch dritten) Tag mich über die Wahl meines Jobs gefreut.
  • 3 neue Ausdrücke auf Türkisch und 2 auf Arabisch gelernt. Viel zu wenig.
  •   Ca. 10 Mal die Stimme erhoben. Lange dachte ich, ich könnte gar nicht schreien.
  • An 35 Tagen darüber diskutiert, warum man in der Schule Papier und Stifte braucht.
  •   Jeden Tag gelacht.


Und jetzt: Feeeeerieeeeen!!! Ohne Wecker, ohne einer 100-dB-Geräuschkulisse, ohne Korrekturen. Ganz ehrlich? Verdient! Ist so!

Donnerstag, 29. März 2012

Reif (für die Ferien)


"Unsere Kultur hat das Glück der Wochenenden und des gesetzlich geregelten Urlaubs."
Rolf G.Schmid


-  „Mrs. Jooooohnson, es war sooo schön gestern!“ Ich kann Melissa nur Recht geben. Wir unterhalten uns eine Weile 
über den gestrigen Tag und sind uns alle einig, dass dieser wirklich wirklich toll war. Alle scheinen zufrieden zu sein. 
Mrs. Johnson sucht also doch nicht immer die blödesten 
Dinge für die Wandertage aus.

Dejan ist gestern doch nicht erschienen.
„Wo warst du gestern?“
- „Zu Hause.“
„Schon klar, in der Schule hat dich ja auch keiner gesehen!“
- „Mir war übertrieben schlecht. Ich dachte, mein Bauch platzt, so Schmerzen hatte ich.“
„So ein Zufall. Vorgestern gesund, heute gesund. Nur gestern krank. Zufälle gibt es...“
- „Wie eklisch Sie sind! Ich wollt sogar Arzt gehen, aber ich konnt nicht mal aufstehen! Ganzen Tag! Und dann noch gekotzt. So kleine Stückchen von Essen gestern. Und Durchfall. Ich schwör, sooo flüssig.“ Und ich bin eklig???
Ich glaube es nicht, aber ich muss es glauben. So ein Mist. Und die Mutterdiemanmeidensollte schreibt ihm bestimmt eine Entschuldigung. Wohlwissend, was hier los ist. Die Lehrer sind ja auch echt gemein, dass sie ihren Jungen nicht mitkommen lassen. Dann soll er doch lieber zu Hause bleiben, statt in der Schule seine Strafe abzuarbeiten. Er macht also, was er will. Und Sanktionen? Pustekuchen! Lehrer lieben es, wenn die Eltern einem in den Rücken fallen! Egal. Es gibt Dinge, die sind halt so.

„Mrs. Johnson, was haben Sie nach Ausflug gemacht?“
- „Unterricht vorbereitet, korrigiert und dann Grey’s Anatomy und Private Practice geschaut.“
- „DAS gucken Sie? Jetzt bin ich aber von Ihnen enttäuscht! Ich dachte, nur so Nachrichten und so.“ Die ganze Klasse scheint enttäuscht zu sein, denn plötzlich entsteht ein lautes Gemurmel. Ich stehe vor der Klasse und warte auf Ruhe.
- „Mrs. Johnson, Sie können anfangen!“ Danke.
„So, Jungs, jetzt mal an die Stifte und das Tafelbild abschreiben!“ Mandy möchte gerne einen Witz reißen. Es gelingt ihr aber nicht ganz.
- „Wo gibt’s denn hier Jungs?“
- „Hier gibt's die. Du und deine Mutter!“ Mandy läuft rot an, schön nach hinten gegangen. Nun wenden sich alle ihren Ordnern zu. Außer Fatih.
„Fatih, setz dich mal ordentlich hin und nimm die Füße vom Stuhl!“
- „Warum?“
„Weil du hier nicht am Strand zum Chillen, sondern in der Schule zum Lernen bist. Tue wenigstens so, als würde es dich interessieren!“
- „Warum?“ Ja, warum eigentlich? Wenn einen nichts interessiert, warum sollte er etwas anderes vorgeben?
- „Mrs. Johnson, gehen Sie mal zur Seite. Ich sehe nix, Sie stehen im Weg!“
- „Aller, kannst du nicht höflich sein? Es heißt, Sie stehen bitte im Weg, liebe Mrs. Johnson. Und beweg dich ma oder ist dein Arsch auf Stuhl festgeklebt?“ Im nächsten Moment wird auch klar, warum Can schleimen musste. Doch davor ist er natürlich noch eine Antwort schuldig.
- „Halt’s Maul, du Dreck! Mrs. Johnson...“ Ich habe keine Kraft, um auf diese Beleidigung einzugehen. Und außerdem fehlt mir für jede, in der Schule fallende, Beleidigung auch die Kapazität und auch die Energie.
„Ja?“
- „Ich muss Ihnen was sagen.“ Can guckt geschämt zu Boden. Er hat bestimmt etwas angestellt. „Es hat was mit der Stunde zu tun. Aber bitte seien Sie nicht böse auf mich! Versprochen?“
„Kommt drauf an. Spuck’s aus!“
„Ich hab nicht zugehört. Können Sie Aufgabe bitte wiederholen?“ Ah so, wenn es nur das ist. Warum stellst du dich denn so an. Sonst ist doch das Nichtzuhören auch kein Problem.
Nach dieser Stunde ist mein Kopf 'ausnahmsweise mal' quadratisch. Ich freue mich wie ein Kind, als die Stunde zu Ende geht und ich endlich Ruhe haben kann. Aber nein...

Gerade möchte ich aus der Schule raus, da kommen einige Schüler auf mich zu.
- „Mrs. Johnson, Mrs. Johnson, Murats Bruder ist da. Und Freunde. Wegen das, was vorgestern passiert. Der Bülent hat doch Murats Kopf auf Tisch geknallt. Und jetzt will Murats Bruder das mit Bülent klären.“ Oh man, dieses ‚klären’ und dann noch mit großem Bruder und Cousins und allen anderen, die man auf die Schnelle einsammeln kann, geht mir auf die Nerven!! Kann ich jetzt nicht einfach Feierabend haben? Müssen die ihre Selbstjustiz hier und jetzt ausüben? Und wieso überlassen die das nicht uns bzw. der Polizei? Ist ja nicht so, dass hier keiner reagiert. Abgesehen davon, dass Murat und Bülent wieder Freunde sind.
Also nix Feierabend. Noch mal rein in die Schule. Schulleitung benachrichtigt, Bülent vorgewarnt und Murats Eltern angerufen. Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Wie gut, dass morgen die Ferien beginnen. 

Mittwoch, 28. März 2012

Meckerfrei


Meckern ist immer leichter, als von anderen angemeckert zu werden.”
Wolfgang Bötsch


Was für ein schöner Vormittag! Die Sonne scheint, jeder schleckt an seinem Eis und wir laufen fröhlich in Richtung Moschee. Fünf sind nicht gekommen. Morgen werden sie mir sicherlich erzählen, dass sich wiedermal von irgendeiner Kriegsverletzung auskurieren mussten. Wer so einen Tag verpasst, ist selbst schuld. Dejan durfte nicht mitkommen, weil er drei Strafarbeiten nicht abgeliefert hat. Stattdessen sollte er heute dem Hausmeister bei diversen Arbeiten helfen.  Ich hoffe für ihn, dass er erschienen ist.

Lachend, quatschend, zufrieden. Gut, bis ich die faulen Socken dazu gebracht habe, 3 km zu laufen und nicht den Bus zu nehmen, hat es gedauert. Abdul versuchte mir lange zu erklären, dass sein Fuß so sehr weh tut, dass er unbedingt den Bus nehmen muss. Das Humpeln war aber dann doch nicht authentisch genug und hat mich nicht überzeugt. Tuncer und Joycelyn sind kurz in die U-Bahn verschwunden, dann aber wieder aufgetaucht. Nichts hat geholfen, Mrs. Johnson blieb standhaft. Schließlich heißt Wandertag nicht umsonst Wandertag. Ab heute mache ich das immer. Nur noch laufen.

Irgendwann kommen wir an der Moschee an. Viel zu früh. Also unterhalten wir uns noch ein bißchen miteinander. Unterhalten ist so selten und so wertvoll. Ich habe es tatsächlich geschafft, dass auch jeder sein Handy wegsteckt und die Kopfhörer aus den Ohren rausnimmt. - „Ey bitte, nur noch ein Lied. Dann mache ich echt aus!“ Also sitzen wir noch ein bisschen in der Sonne und unterhalten uns eben weiterhin alle miteinander. Über das Essen, die Gebete und die Traditionen in den Familien. Herrlich. Kleine Lebensgeschichten, besser als jede Soap-opera. Ich liebe diese Gespräche. Da kommen diese menschlichen Schüler ans Licht- so normal und verletzlich. Die coolen Macker aus der Schule existieren plötzlich nicht mehr. Keine Beleidigungen. Friede, Freude, Eierkuchen. (Welchen Sinn soll eigentlich dieser Spruch ergeben?) Ist schon unfassbar, welche Seiten man an seinen Sprösslingen entdeckt, wenn man sie außerhalb der Schule erlebt.

In der Moschee bekommen wir eine Führung. Eine richtig gute. Mit zahlreichen Infos und vielen Bezügen zum Alltag. Fast zwei Stunden am Stück. Die Kiddies hören zu, stellen Fragen und hören zu. Einander und dem Guide. (Man kann es gar nicht oft genug sagen.) Sie melden sich, wenn sie etwas sagen möchten. Und wenn mal jemand nicht dran kommt, gibt es kein: - „Nie nehmen Sie mich dran, nur die anderen!“ Einige wissen nicht allzu viel, andere wiederum, wissen fast auf alles eine Antwort. Danach bedanken sie sich höflich und fragen mich, ob der Wandertag jetzt vorbei ist und sie gehen dürfen. Sie sind so, wie ich sie mir im Unterricht wünsche. Anderseits, hätte ich nicht des Öfteren üble - wirklich üble - Stunden erlebt, würde ich den heutigen Tag bestimmt nicht in diesem Licht sehen. Es beruhigt aber, dass sie so sein können. Und dass sich das alles lohnt.

Kein Grund zum Meckern. 

Dienstag, 27. März 2012

Sie sind was anderes

„Der Andersdenkende ist kein Idiot, er hat sich eben eine
andere Wirklichkeit konstruiert.“

Paul Watzlawick


Abdul spaziert in die Klasse. So langsam, wie eine Schildkröte. Zur 4. Stunde. Wie selbstverständlich.
„Möchtest du mir vielleicht etwas sagen? ‚Entschuldigung’ wäre nett.“
- „Aller, wieso fahren Sie mich so an? Was kann ich dafür, wegen diese Scheißzeitumstellung?“
„Diese Ausrede hattest du schon gestern. Außerdem haben wir bereits seit zwei Tagen die neue Zeit!“
- „Was Ausrede? Wenn meine Mudda mir nix sagt, wegen diese Zeit??“
„Der Rest hat es komischerweise mitbekommen. Und ich habe es geschafft, pünktlich zu sein!“
- „Ja... bei Sie... is ja auch was anderes...“ Ich gebe es auf.

Von meinem Unterricht hatte ich heute nicht viel, denn in der Stunde davor gab es Aufregung. Bülent und Murat haben in der Kunststunde einander erzählt, wie schlimm die jeweils andere Mutter ist. Was sie alles mit der jeweils anderen Mutter machen könnten, wie viele Männer die andere Mutter schon hatte und wen sie wie in den Allerwertesten f****. Alles war Spaß, natürlich. Bis Bülent bei einer -wohl sehr schlimmen Beleidigung seiner Mutter- aufgesprungen ist und Murats Kopf gegen den Tisch geknallt hat. Einfach so. Innerhalb von wenigen Sekunden. Ich muss wieder eines dieser ‚Deine-Mutter-Gespräche’ führen. Verdammt. Passt mir gerade nicht. Das wahre Opfer hier, bin doch ich!! Ich stelle mich also vor die Klasse und halte wieder meine Moralapostelreden. Bülent und Murat sitzen zwar nebeneinander, aber drehen sich demonstrativ voneinander weg.  Ich verstehe das ja wirklich nicht, ich muss nicht mal schauspielern. Wenn man doch weiß, wie die eigene Mutter drauf ist, warum reagiert man dennoch drauf? Alles leere Worte. Als würden sie wirklich irgendeine Mutter ficken. (Sorry) Das will die Klasse natürlich überhaupt nicht einsehen. Außer Umut.
- „Ey, wenn du guter Moslem bist, sagst du sowas nicht. Du sagst dann einfach: ‚geh mal weg von mir’.“ Hmm, interessante Info.
- „Stellen Sie sich vor, Herr Maier sagt sowas über Ihre Mutter! Das ist übertreiben ehrenlos! Sie würden doch ausrasten?!“
„Nein, würde ich nicht. Ich würde erst gar nicht hinhören, weil ich ja weiß wie meine Mutter drauf ist. Abgesehen davon, unterhalten Herr Maier und ich uns nicht wirklich auf diesem Niveau.“
- „Ja sehen Sie? Bei Ihnen ist was anderes!“ Auch hier gebe ich es auf.

Später unterhalte ich mich mit einer älteren Klasse über das Thema Integration. Es stellt sich raus, dass ich die einzige im Raum bin, die nicht in Deutschland geboren wurde. Und die einzige, die sich nicht als 'Ausländer' ansieht. Alle anderen bezeichnen sich als Türke, Syrier, Kroate, Libanese, Kurde... Alles, nur nicht deutsch. Einige wenige träumen sogar davon, irgendwann wieder in dem Land zu leben, aus dem ihre Eltern oder Großeltern emigriert sind. "Weil es da so schön ist." Warum sind deine Eltern aus 'deinem' Land noch mal geflüchtet?
- „Mrs. Johnson, wussten Sie schon? Bald gibt’s neue Weltkarte. Mit Kurdistan. Stellen Sie sich vor, Flughafen mit McDonalds in Kurdistan? Wie geil das wäre??!!“
- „Gibt’s eine Türkenstraße in Berlin? Muss geben!“ Ramin sitzt mit einem Papierflieger (wahrscheinlich soll es einer sein) da und macht Fluggeräusche. Der sieht aber eher aus wie eine angeschossene Fliege.
„Ramin, was machst du da?“
- „Ich fliege mit diese Fliege in Türkei!“
Wir diskutieren ziemlich lange. Über das Erlernen der deutschen Sprache, arbeiten, annehmen der deutschen Gesetze. Zwischendurch fällt mir ein, ich wollte ja einen Termin mit Betüls Mutter vereinbaren!
„Übrigens, Betül, hat deine Mutter ihrer Mailbox abgehört? Ich habe ihr eine Nachricht hinterlassen.“
- „Mrs. Johnson, Ausländer haben keine Mailbox!“
„Seit wann denn das? Ich habe eine!“
- „Sie sind ja auch Lehrerausländer. Is was anderes.“
Die Meinungen sind ziemlich gespalten. Ich erzähle meinen Schülern die Geschichte meiner Eltern. Dass sie beide sehr gut Deutsch sprechen, sich in Deutschland adaptiert haben und relativ schnell nach unserer Ankunft angefangen haben, zu arbeiten. Als Antwort darauf bekomme ich : - „Ja ... Ihre Familie, das ist ja was anderes ...“ Vielleicht haben Sie Recht.

Montag, 26. März 2012

Man ist nur einmal jung

„Alter spielt überhaupt keine Rolle, es sei denn, man ist ein Käse.“

Billie Burke

Was für ein übler Tag. Der Tag nach so einem ... ähm ... lustigen und langen Wochenende, mit seeehr wenig Schlaf. Der Tag, an dem man beim Autofahren sich doppelt konzentrieren muss, Kaffee am liebsten intravenös braucht und eigentlich nicht allzu viele Geräusche verkraften kann.

Ich komme also nur halb wach in der Schule an. Schon klebt Walmir an der Fensterscheibe meines Autos. - „Guuuten Morgen, Mrs. Joooohnson!“ Oh bitte, warum denn gleich dermaßen laut und warum direkt auf dem Parkplatz?
„Guten Morgen, Walmir. Wie geht’s dir?“
- „Übertrieben gut! Haben Sie Hertha nicht gesehen? Beste Spiel ever!“
„Nein.“
- „Echt, Sie haben Hertha nicht gesehen?“ Soll in den besten Familien vorkommen, dass man sich nicht jedes Spiel anschaut.

In der Klasse angekommen, verstehe ich, dass die Schüler total ferienreif sind. Und wenn die Schüler es sind, sind wir es schon lange.
- „Mrs. Johnson, warum sind Sie Freitag so schnell in Auto gestiegen und gefahren? Wie Vettel. Waren Sie Krankenhaus?“ Kann man mich nicht wenigstens heute mit diesen Fragen verschonen?
„Nein, ich musste ganz schnell zum Bahnhof.“
- „Eeecht, sind Sie DEUTSCHE Bahn gefahren??“
„Nein, bosnische.“ Dejan schaut mich mit großen Augen an.
- „Hä? Wie jetzt?“ Ok, die Humorschiene funktioniert heute also nicht. Vormerken.
- „Ich will, dass mein Bruda auch Bahn fährt.“ Gülcan springt vor meiner Nase hin und her.
„Wieso das denn?“
- „Ich will den Zirkus schicken. Für immer. Der nervt übertrieben!“ Riesen Idee, ich schicke die Hälfte der Klasse mit!
Murat weiß bescheid. - „Sie waren doch bei Geburtstag von Ihre Oma.“
„Ja, auch.“
- „Was haben Sie ihr geschenkt?“
„Blumen.“
- „Wie Blumen? Die freut sich wegen Blumen? Warum keine Play Station??“ Ja, warum eigentlich nicht? Muss ich beim nächsten Mal dran denken.
- „Aller, Mrs. Johnson, haben Sie Party gemacht? Wie müde Sie aussehen.“ Ich packe weiter meine Sachen aus (im Vergleich zu den Schülern) und ignoriere die Frage.
- „Uhhhh, Sie haben Party gemacht! Mrs. Joooohnson, Party und so?“ Ich schweige eisern weiter, bis Cristina eine wahre Weisheit von sich gibt: - „Also, ich verstehe das, Mrs. Johnson! Man ist nur einmal jung!“ Wie wahr, wie wahr!

- „Mrs. Johnson, diese Gast am Freitag, die Frau da. Die ist doch auch von Ihre Land? Hab ich sofort gesehen. Können Sie mir nicht Hubsche aus Ihre Land organisieren?? Sehen Sie, meine Muskeln sind gewachsen, sind doch?“ Dejan entblößt seine Oberarme vor mir. Zum Glück, nur die.
„Entschuldigung, aber ich habe deine Oberarme noch nie gemessen.“
- „Wollen Sie? SIE dürfen!!“ Nett von dir. Aber ich lehne dankend ab.
- „Mrs. Jooooohnson! Haben Sie das gesehen?? Frau Wieheißtsienochmal, die am Freitag hier war, hat mit Links geschrieben!!!“
- "Aber sie hat Bachelor! Die hat doch bei diese RTL-Serie gespielt."
"Bachelor ist ein Uni-Abschluss." Dieser Einwand von mir, wird überhört.
- „Ja und? Ich schreibe auch mit Links, du kleine Missgeburt. Null schlimm oder Mrs. Johnson?“ Tuncer ist fast beleidigt.
„Tuncer, pack lieber deine Materialien auf den Tisch, statt alles zu kommentieren."
- „Maaan, immer sind Sie auf mich fickiert!“
„1. Fixiert und 2. Nein, nicht nur auf dich. Andere müssen auch leiden.“

Freitag, 23. März 2012

Besuch


”Wer mich besucht, erweist mir eine Ehre. Wer mich nicht besucht, macht mir eine Freude.”

Henry de Montherlant

Besuch ist toll, Besuch ist Abwechslung und Besuch ist was lernen. Der heutige Besuch machte uns eindeutig Freude.
Frau G-Punkt und ich warten schon im Klassenraum. Die ersten trödeln ein. Ganz langsam. Zuerst die Jungs, dann die Mädchen. Die letzteren brauchen wohl nach dem Sport etwas länger. Hübsch machen, bis sie aus der Umkleide rausgeschmissen werden.
- „Mir ist übertrieben heiß, können wir nicht hitzefrei machen?“ Ok, es ist wärmer, als im Februar. Hochsommer ist aber nun wirklich nicht ausgebrochen. Also nicht übertreiben bitte.. Mein Blick verrät wohl die Antwort.
- „Wie ich schwitze, dann setze ich mich ans Fenster.“ Umut sieht so aus, als wäre er gerade kilomertweit gelaufen. Und dann bemerkt er unseren Besuch.
- „Wer sind Sie?“
„Das verraten wir gleich. Setzt euch erst mal hin und packt euren Ordner aus.“
Frau G-Punkt ist eine gute Freundin von mir, die sich ziemlich gut mit den momentanen Begebenheiten des Arbeitsmarktes auskennt und bereits unzählige Bewerbungsgepräche geführt hat. Vielleicht glauben die Kiddies ja ihr, dass gute Noten, Pünktlichkeit und andere Dinge echt wichtig sind, wenn man einen Ausbildungsplatz bekommen möchte.
Frau G-Punkt stellt sich also vor.

- „Mrs. Johnson, woher kennt ihr euch? Ich meine Sie. Woher kennen Sie euch? Ähmmm...“
- „Haben Sie Facebook, Frau G-Punkt?“
- „Haben Sie Mrs. Johnson Arbeit besorgt? Ich kann Ihnen auch viel besorgen! Brauchen Sie I-Phone-Cover für guten Preis? Ich mache Special-Preis.“
„Jetzt lasst Frau G-Punkt erst mal erzählen und dann könnt ihr ja Fragen stellen.“ Frau G-Punkt erzählt also. Von den vielen Arbeitslosen, von den wenigen Ausbildungsplätzen und von den hohen Ansprüchen in der Arbeitswelt. Die Schüler nicken, seufzen und wundern sich. Der eine oder andere nimmt sich auf der Stelle vor, sich zu bessern. Abdul möchte es genauer wissen.
- „Also ich will ja Polizist werden. Braucht man Mathe dafür? Und welche Note in Englisch? Was ist, wenn ich mal zu spät komme? Und wenn ich es mir doch anders überlege? Und wenn ich ganz schlechte Noten habe oder viele Fehltage oder auch Verspätungen. Ist schlimm?“
Unser Besuch beantwortet geduldig alle Fragen und die Schüler benehmen sich wirklich vorblidlich. Naja bis auf Emre und Deniz. Die sitzen in der letzten Reihe und spielen XXO, hören aber sofort auf, als sie ermahnt werden. Respekt und so. Ich sage’s doch, vorbildlich. Und bis auf Betül, die als letzte in die Klasse reinkam- schön gestylt. Mitten in der Erzählung von Frau G-Punkt fragt sie:
- „Mrs. Johnson, darf ich Klo gehen?“ Oh bitte, blamiere mich doch nicht...
„Nö.“
- „Biiiiiittttte!! Dringend!“
„Nö.“
- „Oh man..“ Diese Johnson, sooo gemein.
Frau G-Punkt läßt sich nicht stören und erzählt weiter, von äußerst spannenden Dingen.

Zum Schluss gibt Frau G-Punkt den Rat, sich mal zu googeln und zu gucken, welche Informationen über einen selbst im Netz vorhanden sind. Außerdem sollte man nicht allzu peinliche und private Fotos oder Videos  von sich, zum Beispiel auf Facebook, hochladen. Der potentielle Arbeitgeber könnte ja ebenso  googlen und sich seine Entdeckungenanschauen. Dejan ist ein ganz Schlauer.
- „Aber was ist wenn ich bin bei Facebook, aber mich anders benenne? Das kriegen die nie raus. Ich bin eh klüger.“ Oh je... Auch Abdul möchte noch etwas fragen.
- „Also, ich möchte ja Polizist werden...“ Wirklich?

Und wenn wir schon bei Arbeitsplätzen sind. Wenn Lehrer aus Berlin das Bundesland wechseln möchten, werden sie von Berlin nicht einfach so freigestellt. Schulleiter geben keine Freistellung, weil sie
- sonst den Schulbetrieb nicht aufrecht erhalten können und
- es so ‚von oben’ gesagt bekommen haben.
Das ist natürlich super. So möchte man, die Junglehrer in Berlin behalten. Wenn also jemand unbedingt wechseln möchte, kann er ja kündigen. Das ist der Vorteil dabei, nicht verbeamtet zu sein. Aaaaaber... Die Kündigung erfolgt zum Ende eines Schuljahres. Der neue Vertrag beginnt meist nach den Sommerferien. Und je nach der Zeit der Schulferien in unterschiedlichen Bundesländern ist man dann vier bis sechs Wochen arbeitslos, also ohne Geld. Doch so nett, unser Arbeitgeber...