Mittwoch, 30. Mai 2012

Schöne Aussichten


„Es führen viele Wege zum Gipfel eines Berges, doch die Aussicht bleibt die gleiche.“
 
Aus China

Es ist unglaublich, wie schnell man nach den Ferien wieder ferienreif wird. Von den 10. Klassen spreche ich schon gar nicht. Die jammern nur noch. Ob es denn wirklich sein muss, dass man in dieser Phase des Schuljahres noch Unterricht macht. Ob man nicht einfach raus gehen und chillen kann. Die jammern selbst dann, wenn man ihnen einen Film zeigt. Klar, der Film hat immer einen tiefsinnigeren Hintergrund und muss schon etwas zur Bildung des Intellekts beitragen, aber es ist immerhin ein Film und kein Buch, das man lesen muss! Ohne Sinn, einen Film anzuschauen. Dann kann man ja gleich gehen oder zu Hause bleiben. Als ob es mir Spaß machen würde, für demotivierte Schüler etwas auszudenken und sie zu bespaßen. Meine Klasse ist so wie immer. Keine Hausaufgaben, null Bock auf gar nichts, aber ansonsten eigentlich ganz ruhig und nett. Dejan und Fatih waren heute nicht da. Kann gut sein, dass dieser positive Eindruck daher kommt.

Auch die Schulleitung hat ihre üblichen Problemchen. Sie versucht neue Lehrkräfte für das neue Schuljahr zu bekommen, um den Unterricht irgendwie gewährleisten zu können. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder man nimmt ganz neue Lehrer. Die, die gerade ihr Referendariat absolviert haben. Ist nicht unkompliziert. Für sie muss die Stelle geschaffen werden, der Bezirk muss also Geld haben und die Schule genau diese Fächerkombi benötigen. Die Neuen wissen natürlich, was sie heutzutage wert sind und stellen alle möglichen Ansprüche. Von Materialienausstattung bis Ausländerquote. Der eine will das nicht auf seinem neuen Arbeitsplatz haben, die andere jenes nicht. Smartboards, so wenig NDHs (nicht deutscher Herkunft) wie möglich oder einen bestimmten Stundeplan. So gehen die Schulleiter zu so genannten "Castings" und schlagen sich fast um die wenigen Bewerber. Kann also passieren, dass ein Schulleiter mehrere Stunden bei solch einer spaßigen Veranstaltung hockt und dennoch leer ausgeht.
Die andere Variante heißt, sich versetzen zu lassen. Und das grenzt ganz stark an Menschenhandel. Sagen wir mal, Frau L. ist Physiklehrerin und möchte aus der Schule in einem Bezirk in eine Schule in einem anderen Bezirk wechseln. Da muss sie aber erst mal rausgelassen werden. Man stellt einen Antrag beim zuständigen Schulrat und er kann einfach 'nein' sagen, wenn er zu wenige Physiklehrer in seinem Bezirk hat und auch keine neuen bekommt. So stellt Frau L. noch einen Antrag und noch einen und noch drei weitere, bis es vielleicht nach einem oder mehreren Jahren gelingt, die Schule und den Bezirk zu wechseln. Die Schule, die Frau L. aufnehmen möchte und fest mit ihr rechnet, hat sich also zu früh gefreut. Am Ende geht es also nur um Zahlen und Statistiken, so wie an vielen anderen Stellen. Häckchen machen für die Statistik, wie alles dahinter aussieht, interessiert keinen Menschen. Siebte Stunde vertreten, weil für die Statistik kein Unterricht ausfallen soll. Dass die Schüler keinen Sinn in dieser Stunde bei einem fremden Lehrer sehen und ziemlich wenig bis gar keine Lust zeigen und der Kollege alles versucht, um die Klasse bei Laune zu halten, ist erstmal sekundär. Sind es nicht tolle Aussichten?

Passend zu gegenwärtigen Geschehnissen habe ich heute auch die Berufsorientierung-Stunde gestaltet und dachte, ich frage mal die Schüler zum Ende des Schuljahres nach ihren Aussichten. Zuerst mussten die Schüler einen Lebenslauf erstellen, schließlich müssen sie sich bald bewerben. Nach paar Nachfragen und Verbesserungsvorschlägen meinerseits hat es dann auch funktioniert.
- "Mrs. Johnson, was das 'ledig'?"
"Ledig heißt nicht verheiratet."
- "Und wenn ich verheiratet bin?"
"Dann schreibst du verheiratet!"
- "Ah so... Und hier steht 'Region'. Was das? Soll ich da 'Islam' schreiben?"

Es folgten ein paar Überlegungen zur eigenen Zukunft. Hier eine Sammlung von Antworten zum Thema 'Meine Ziele':
- "Reich sein und ohne Schulden leben, nicht so wie Michael Jackson."
- "Viel trainieren."
- "Eine sehr schöne Frau besitzen und drei schöne Kinder. Alhamdulillah." (Das war Abdul. Er wiederholt dieses Ziel jede zweite Woche.)
- "Mein Glaube über alles." (Hä? Ziel, wo hast du dich versteckt?)
- "Einmal Heidepark sein."
- "Keine unentschuldigte Tage auf Zeugnis. Aber wenn da 2 Tage unentschuldigt stehen, ist nicht so schlimm, oder?"
- "Rechtsanwalt werden."

Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

Dienstag, 29. Mai 2012

Zuhören wird überbewertet


„Ein liebenswürdiger Mensch ist jemand, der lächelnd anhört, was er schon weiß, wenn es ihm jemand erzählt, der das nicht weiß.“

Alfred Capus

- “Mrs. Johnson, Sie brechen Regel von diese Land!”
“Ah ja? Dann erzähl mal, Tuncer! Ich höre dir ja immer gerne zu!”
- “Ja! Kinderarbeit is doch verboten! Hier in Deutschland.”
“Stimmt. Und?”
- “Wie Sie uns arbeiten lassen! Schreib ma ab, lies ma Text, putz ma Klasse, hol ma Kreide! Bin ich Knecht oda was?”
“Glaub mir, wenn du wüsstest, was wirkliche Kinderarbeit ist, würdest du denken, Schule wäre Paradies!”
- “NIEMALS! Paradies, aller… Sie denken auch, Sie wissen alles!”
“Ich denke es nicht, es ist so!”
- “Gaaar nicht. Können Sie mir nicht einfach wichtigste Wörter sagen und ich unterstreich die? Wäre mies nett von Ihnen!”
“Du weißt doch, ich bin nicht nett.”
Tuncer grinst über beide Ohren und ich hoffe in dem Moment, dass ich ihn endlich zur Ruhe gebracht habe. Aber nein.
- “Mrs. Johnson, sind Sie eigentlich so… mit Aslaks … ähm… aufgewachsen??”
“Mit wem?”
- “So Assis halt. Wenn Sie Kind waren, hatten Sie so viel mit so Assis zu tun?”
“Wie kommst du denn drauf?”
- “Sie haben so Sprüche manchmal. So, als ob Sie mit Aslaks wohnen.” Hmmm, wohnen nicht. Aber sind wir mal ehrlich, es ist ja nicht so, als würde ich keine kennen.

- “Ey Tuncer, du bist wie BZ!”
“Fatih, du musst wirklich nicht alles kommentieren!”
- “Aber is doch! Der erzählt nur Scheiße!”
“Danke für deine Meinung, jetzt kannst du ja weiter den Text lesen!”
- “Nein, ich kann nicht.”
“Weil?”
- “Sag ich Ihnen gleich. Erst müssen Sie mir sagen, was war das Peinlichste, was Ihnen passiert ist??”
"Da gab es einige Momente..."
- "Wissen, was bei mir peinlich war?"
"Nein, aber du wirst es mir bestimmt gleich sagen."
- "Jaaa, das Peinlichste ist, diesen Jungen in mein Leben zu sehen!" Er zeigt mit dem Finger auf Tuncer und tut so, als ob er kotzen würde.
Tuncer lässt nicht lange auf eine Reaktion warten.. - "Halt's Maul, du Hund. Willst du Schläge, Missgeburt??"
"Ruhe jetzt, Jungs. Fatih, du wolltest mir gerade erzählen, warum du nicht länger unterstreichen kannst!"
- “Muss übertrieben dringend aufs Klo! Sie wissen schon… groß!”
“Sehr interessant. Ich muss auch. Und jetzt?”
- “Wie jetzt?”
“Na, wir können doch jetzt nicht alle gemeinschaftlich aufs Klo gehen und den Unterricht sausen lassen? Es klingelt in 15 Minuten! So lange wirst du es wohl aushalten können!”
- “Wieso können wir nicht Unterricht sau… wie heißt das…?”
“Weil! Ihr geht nicht während des Unterrichts aufs Klo! Auch ich nicht, keiner!”
- “Ich habe Vorschlag.”
“Nein.”
- “Sie hören nicht ma. Sie gehen zuerst auf Toilette, dann ich. Kommen Sie schon!”
“Jetzt weißt du auch, warum ich nicht immer zuhöre!!”


Freitag, 25. Mai 2012

Nur ein Tag?


“Wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich selbst 
hat, ist ein Sklave.”

Friedrich Nietzsche

Ich liege gerade im Bett und kann mich nicht bewegen. War das wirklich nur ein Schultag, der soeben vergangen ist? Mir kommt es vor, als wären es 10 Tage. 10 verdammt lange Tage. So viel ist heute Vormittag passiert. Alles, außer Unterricht. Gestern Abend habe ich mich mit meinen Mädels getroffen und habe ihnen bisschen von dem momentanen Schulalltag berichtet. Nach den Geschichten, schaute mich eine von ihnen unglaublich an und fragte: “Macht der Job dir wirklich Spaß? Dieser Job kann dir doch keinen Spaß machen??” Nun ja, keiner hat mich gewarnt, dass es so sein würde. Dass das Unterrichten bei Weitem nicht das Hauptgeschäft sein würde, sondern alles andere, was man am besten gestern regeln sollte. Aber ja, ich liebe den Job. Meistens. Nur nicht an Tagen wie heute.

Schon am Schultor begegne ich Mandy und ihrer Mutter. Die Mutter fängt gleich an, mich mit ihren Bedenken zu bombardieren. Wie das sein kann, dass so ein teueres Handy verschwindet? Ähmm, Entschuldigung, warum hat Ihr Kind überhaupt so ein Handy und bringt es mit in die Schule? Warum wir Lehrer nicht aufpassen und nicht mit der Klasse reden, warum geklaut wird und warum das und warum jenes. Genau das, was man am frühen Morgen, noch halb verschlafen, braucht! Ich höre mir das paar Minuten an, entschuldige mich, weil ich noch einiges vor Unterrichtsbeginn zu tun habe, verspreche, mich drum zu kümmern und verschwinde im Schulgebäude. Mandy dackelt mir hinterher.

Ich könnte schon am frühen Morgen kotzen! Können die denn nicht einen Tag aushalten, ohne irgendwas anzustellen? Bzw. sollen die doch anstellen, was sie wollen, aber außerhalb der Schule! Ich will nicht jedes Mal Sherlock Holmes spielen müssen! Heute muss ich es wohl…
Dieses Spiel zog sich den ganzen Tag hin, ich kann hier aus wochenendtechnischen Gründen leider nur einige wenige Einzelheiten erzählen.

Zuerst habe ich mir Mandy und Isabel, die daneben saß, geschnappt. Natürlich alles während des Unterrichts. Tür aufgelassen und draussen die Schüler befragt. Mandy ist total aufgelöst. Immer noch. Isabel versucht sie zu unterstützen, wo sie kann. Das Handy wurde also direkt aus der Tasche entwendet, als Mandy kurz auf Toilette war. Die beiden sind sich relativ schnell einig, dass es sich bei den Tätern nur um Dejan und/oder Fatih handeln kann. Immer wieder die zwei… Langsam reicht’s!

Zum zweiten Verhör hole ich also Dejan und Fatih vor die Tür und frage sie, ob sie was wissen. Meine Stunde ist schon lange flöten gegangen.
Fatih wird sofort laut und fängt an, zu schreien.
- “Ich bin immer der Täter! Wieso verdächtigen Sie immer mich?”
“Ich verdächtige dich doch gar nicht, ich will nur wissen, ob ihr etwas wisst, was uns weiterbringen kann!” Dejan sitzt da, wie ein Engel. Den üblichen Hundeblick drauf.
- “Aller, Mrs. Johnson, wieso glauben Sie so schlecht? Ich hab dem Scheißhandy nicht! Ich schwör auf alles! Auf meine Mutter, Koran und mein Leben!”
- “Was ein Schock ich hatte, als Sie sagten, Sie wollen mit mich sprechen! Ich schwör, ich hab nix gemacht! Immer ich und so. Reicht! Ich sag Ihnen, Sie bekommen so Probleme, wenn sie mich noch mal verdächtigen!
“Jungs, geht noch mal in euch und überlegt, ob ihr wirklich so unschuldig seid! Wir sprechen nachher noch mal!”

Zum dritten Verhör (mittlerweile läuft die zweite Stunde meines Unterrichts) hole ich Tuncer. Er sitzt auch da in der Ecke, er muss etwas mitbekommen haben!
“Ich höre!”
- “Ich weiß nix!”
“Ich glaube dir kein Wort!”
- “Aller… wieso??”
“Weil ich es hasse, wenn ihr einander für eure kriminellen Machenschaften deckt!”
- “Was Krimi?”
“Das, was da passiert ist, ist kriminell! Wir sprechen von einer Straftat. Wenn ich hier nicht weiterkomme, dann muss ich die Sache an die Polizei weitergeben!”
- “Aber der ist mein Freund…”
“Das ist keine Freundschaft. Das ist dumm und feige! Wenn ihr schon Scheiße baut, dann steht auch dazu!”
- “Wie reden Sie mit mir? Haben Sie gesagt, ich bin dumm??”
“Tuncer, ich warne dich! Bleib bei der Sache!”
- “Cüs lan, wie Sie mich zwingen! Ok, ich sag was, aber nur für 100€!” Ich glaube, ich höre nicht recht!
“Sehe ich aus wie jemand, der mit dir Geschäfte machen möchte??”
- “Ok 5€! Ich mache Sie Angebot!”
“Und sehe ich vielleicht aus, wie ein Gemüseverkäufer auf dem Markt, mit dem du handeln kannst??? Tuncer! Die Sache ist ernst und du hast gewaltige Probleme, die mit jeder Minute größer werden…”
- “Also eigentlich haben Sie eine echt gute Entscheidung getroffen mit mir. Ich bin Profi, ich hab schon alles gesehen und vooooll viel gehört.”
“Ich treffe grundsätzlich gute Entscheidungen und du auch, wenn du jetzt endlich redest!!! Du verschwendest meine Zeit und hälst mich von meiner Arbeit ab!! Ist dir das klar??? Ich glaube nicht, dass du meinen Stundenlohn zahlen möchtest!!”
- “Ok ok, kommen Sie ma runter!!”
“Komm du mal runter!” Endlich fängt Tuncer an, zu reden. Er nennt paar Fakten und ein paar andere Namen. Ich verhöre also laaange alle, die da irgendwie mitgemischt haben.
--- Bitte nicht stören, Sherlock Holmes bei der Arbeit! ---
Und werde immer wütender und immer müder.
Die Lehrer wechseln. Zum Glück habe ich heute einige Stunden in der 10ten. Die sind nur froh, wenn man sie in Ruhe lässt und können auch schon auf sich selbst aufpassen. Trotzdem bescheuert. Aber die Handygeschichte muss jetzt geklärt werden.

Als ich mit dem letzten ‘Zeugen’ vor der Tür sitze, kommt ein Schrei aus dem Klassenraum. Yunus rennt raus. Er ist total aufgeregt und kriegt kaum zwei Wörter zusammen. Ich muss ihn erst mal beruhigen, um zu verstehen, was er sagen will. - “Mrs. Johnson, Mrs. Johnson… ich schwör, ich war’s nicht. Das Handy lag plötzlich in meiner Tasche!” Diese feigen Flaschen! Handy klauen und wenn es brenzlig wird, dann einem Unschuldigen in die Tasche stecken, damit er dann den Ärger kassiert! Unfassbar!

Nach drei Stunden habe ich, glaube ich, die ganze Geschichte zusammen. Nach dem alle ‘Zeugen’ ein bisschen bis viel gelogen, mir jeweils eine andere Geschichte erzählt haben und keiner es getan haben soll. Es war so:
Dejan muss das Mathebuch bezahlen, weil er sein Buch quasi zerstört hat. Entweder bezahlen oder neues besorgen. Ganz einfach. 20 € sind aber viel, die will man ja nicht unbedingt ausgeben. Also bittet er Bakr aus der Parallelklasse ein Deal an. Bakrs Buch gegen das Handy von Mandy. - “Du gibst mir dein Buch, ich besorg dir Handy!” Beim ‘Besorgen’ greift ihm Fatih natürlich nur allzu gerne unter die Arme… Und Dejan kann ein ordentliches Buch vorweisen. Und dann sitzen beide vor mir und schwören auf alles, dass sie es nicht waren. Der Plan ist nur nicht ganz aufgegangen…

Erst der halbe Tag ist vergangen und ich bin schon fix und fertig. Und sauer. Womit beschäftige ich mich hier eigentlich den ganzen Tag??? Sind die alle noch normal??? Zumindest ist es jetzt geklärt und ich kann in Ruhe den restlichen Tag unterrichten. Denke ich, bis ich die Stimme des Direktors höre. “Mrs. Johnson, Sie gehen doch jetzt in die Klasse von Frau Kirchner? Da gab es eine Schlägerei in der Pause. Ein Junge ist im Krankenhaus mit blutender Nase. Können Sie versuchen rauszufinden, wer ihm den entscheidenden Schlag verpasst hat?” Natürlich, mache ja sonst den ganzen Tag nichts anderes.

Donnerstag, 24. Mai 2012

Ohne Worte


Diplomatie ist die Kunst, mit hundert Worten zu verschweigen, was man mit einem einzigen Wort sagen könnte.”

Saint-John Perse

Was für ein ätzender Tag! Heute morgen, nach der ersten Stunde, dachte ich: ‘oh man, was willst du bloß heute Abend schreiben? Ist ja alles so friedlich und unspektakulär’.  Jetzt sitze ich total fertig am Schreibtisch und wünsche mir, ich hätte nichts zum Schreiben gehabt. Und ich wünsche mir Ferien. Ganz lange Ferien. Und kühleres Wetter. Ja ja, ich weiß, uns Menschen kann man es nie recht machen. Im Winter ist es uns zu kalt und im Sommer zu warm. Hitze scheint ein Freifahrschein zu sein. “Mir ist heiß, also komme ich nicht zur Schule, brauche meine Materialien nicht mitzubringen, kann mit Flaschen durch die Gegend werfen.” Letzteres wahrscheinlich in der Hoffnung, dass die vollen Flaschen wie eine Spritzfontäne (heißen diese Dinger so?) funktionieren und alle von ihren Quallen erlösen. Vielleicht sollte ich auch mal, weil mir zu heiß ist, nur noch schlecht gelaunt sein, Tadel verteilen und im Unterricht nur stupide Texte abschreiben lassen. Nichts mehr mit bunten Arbeitsblättchen und möglichst Lernen mit Spaß verbinden. Nö! “So Kinder, mir ist heiß! Wir haben kein Hitzefrei, ich muss leider arbeiten und habe gaaar keine Lust. Also schreibt ihr erst mal die Seiten 218 bis 150 im Buch ab, räumt dann die ganze Schule auf und läuft noch zwei Runden um den Block, um euch abzureagieren! Währenddessen setze ich mich schön ans offene Fenster, lese mein aktuelles Horoskop und trinke eine eisgekühlte Cola!! SO!!!”

Jedenfalls war ich nach der ersten Stunde sooo gut drauf. Na gut, sieben Leute waren noch nicht da. Somit konnte ich mit einer kleineren Gruppe arbeiten. Trotzdem: ich konnte mit den Schülern arbeiten! Also gut gelaunt und nichts ahnend bin ich in der fünften Stunde noch mal rein. Die sieben haben verschlafen oder Bus oder Isdochnichtmeineschuldwennichnichtaufstehenwill oder sonst noch was, haben aber mittlerweile den Weg in die Schule gefunden. Die Klasse ist jetzt vollständig. Außer Lukas. Er schwänzt wieder mal. Die Klasse sieht aus wie Sau. Das Klassenbuch voll. Zwei Mal der Eintrag: ‘Unterricht nicht möglich’ Und ganz viele einzelne: ‘Fatih wird unverschämt’, ‘Walmir wirft mit Flaschen und verletzt Jocelyn am Kopf’, ‘Mandy mit Jocelyn während der Stunde draussen, zur Beruhigung’, ‘Dejan schlägt Can und Can freut sich’, ‘Dejan lässt sich im Unterricht von Isabel massieren’ … Während ich diese Einträge lese, kommen einige Schüler auf mich zu. Jocelyn noch ganz verheult, weil eine halbvolle Flasche an den Kopf bekommen, wohl echt weh getan haben muss. Can, der mit dem Finger auf Dejan zeigt und ohne Pause redet, was Dejan ihm alles angetan hat und viele andere, die alle auf einmal irgendwas sagen, was ich bei dem Gebrüll nicht entziffern kann. Hört sich aber nach Beschwerden an. Ich will sie gar nicht hören. Ich bin so sauer, dass ich mal liebsten rausrennen, die Tür zuschlagen und die Klasse auf der Stelle abgeben würde! Mein Kopf raucht. Ich überlege, was ich machen soll. Na was schon? Mit Eltern sprechen, Tadel ausstellen, sauer sein. Nö, alles ohne Wirkung. Wie bisher gesehen. Ich entschließe mich, Einzelgespräche zu führen. Der Aufbau einer persönlichen Beziehung zum Schüler ist oftmals das einzige Mittel. Und bleibe 2,5 Stunden länger in der Schule, als ich musste. Die, die jetzt aufschreien und sagen: “Uhhh, wie schlimm. Mal nicht um 12, sondern um 14h gehen…”, wissen nicht, dass wir nachmittags teilweise noch mehr zu tun haben, als vormittags.

Die Einzelgespräche laufen so wie immer. Dejan erklärt mir, dass er gar nicht aggressiv ist.
- “Walla? Was ich? Wenn jemand mir sagt ‘ey, nerv ma nicht’, dann lass ich diesen Mensch doch direkt in Ruhe!”
“Dejan, jetzt mal ehrlich! Wir stellen uns jetzt eine Situation vor, wie sie wahrscheinlich in den letzten Wochen 100.000 Mal vorgekommen ist. Melissa kommt zu dir und bittet dich, sie nicht mehr zu schlagen, sondern in Ruhe zu lassen. Und jetzt E.H.R.L.I.C.H.!!! Was antwortest du??
- “Na gut, ich sag schon so ‘halt’s Maul’”. Ich lächele zufrieden. Einsicht ist der erste Weg zur Besserung.
“Und was hast du heute gemacht, als Isabel dich nicht massieren wollte??”
- “Ich hab gesagt, die muss… Und dass sie nicht bei Sie petzen soll..”
“Sonst??”
- “Sonst mach ich ihre Stifte kaputt.”
“Was du ja auch heute gemacht hast!!! Aber wenigstens bist du ehrlich!”
- “Ja, aber ich sag ja nicht zu jedem ‘halt’s Maul’, nur wenn der so dumm aus der Ecke kommt und so wie ganz plötzlich sagt ‘nerv ma nicht’ oder so, dann muss ich doch was sagen!” Ich versuche, an den Teil seiner Vernunft zu appellieren, der ihm am meisten Sorgen bereitet.
“Nein, musst du nicht! Du willst doch immer ein paar Mädchen klar machen. Indem du andere schägst und bedrohst, wirst du keine Mädels aufreißen können! Frauen stehen auf Männer, die was im Köpfchen haben. Gerade zeigst DU keine Männlichkeit!”
- “Mrs. Johnson! Sie haben keine Ahnung! Ich hab die doch schon alle klar gemacht.”

Mit Fatih läuft es ähnlich.
“Was machen wir mit dir??”
- “Wie?”
“Was machen wir mit deiner Null-Bock-Laune? Bist du nicht daran interessiert, einen Abschluss zu machen?”
- “Doch, ich will Abschluss. Is nur so eine Phase. Aber die anderen nerven!”
“Wenn du später vor dem Arbeitgeber sitzt, dann interessiert ihn nicht, dass die anderen genervt haben. Er sieht dann nur schlechte Noten und hat wahrscheinlich schon zu diesem Zeitpunkt genug gesehen!”
- “Jaaa.. Arbeitgeber.. Ich krieg schon Stelle bei meinem Onkel im Laden.”
“Und du glaubst, dass er unpünktliche und faule Mitarbeiter braucht?”
- “Neeein…”
“Na also.”
- “Aber in erste Stunde war ich doch gut, oder?”
“Du meinst, in den 20 Minuten, in denen du da warst?? Ja!”
- “Dann muss ich wieder schlecht werden.” Ich gucke ihn total verzweifelt an. Ich bin verzweifelt, am Ende meiner Kräfte.
“Ey, Mrs. Johnson. War nur Witz. Sie müssen oft lachen. Das ist gesund, wissen Sie?”

Nach fünf Gesprächen gehe ich einigermaßen zufrieden zum Lehrerzimmer, um meine Sachen zu holen und endlich nach Hause zu fahren. Hinter mir höre ich Nafisas Stimme.
- “Mrs. Johnson, Mrs. Johnson… Mandy hat gerade ihre Tasche durchgeguckt. Ihr Handy wurde geklaut!” Morgen geht es also mit Wahnsinn weiter. Nimmt es denn nie ein Ende??

Mittwoch, 23. Mai 2012

Nackenklatschernverteilerin


“Man muss dich die Menschen nach ihrer Art verbindlich machen, nicht nach der unserigen.”

Georg Lichtenberg

Mittwoch ist toll, ich muss später in die Schule. Mittwoch ist blöd, weil ich deswegen nie einen Parkplatz finde. Alles ist schon besetzt. Heute morgen habe ich ein paar Runden extra gedreht. Rechts von der Schule, links von der Schule, hinter der Schule, auf der anderen Straßenseite. Keine Chance. Auch nach der vierten Runde blieb nur eine kleine Lücke. Genau vor dem Schultor. Hoffentlich überlebt mein Auto diesen Tag kratzfrei.

Nach dem Unterricht lasse ich mir viel Zeit. Ich möchte mit den Schülern keine Gespräche über mein Auto führen. Nach dem Schulschluss eigentlich gar keine Gespräche mehr. Ich kontrolliere also noch mal die Klasse, ob auch Ordnungsdienst gemacht wurde, schreibe eine Schulversäumnisanzeige (so eine kriegen die Schwänzer immer) und unterhalte mich noch bisschen mit Kollegen. Über dieses und jenes. 40 Minuten nach dem letzten Klingelzeichen verlasse ich endich die Schule. Hoffentlich sind sie jetzt alle weg. Ich gehe raus und sehe Can, Dejan, Fatih, Umut und Abdul. Direkt neben meinem Auto. Na super. Mit demselben Erfolg hätte ich schon vor 40 Minuten gehen können.
“Jungs, welch’ Überraschung, euch zu sehen! Das war echt nicht nötig, ihr müsst doch nicht auf mich warten!”
- “Aber Mrs. Johnson, wieso? Auf Sie warten is King!”
“Dejan, was machst du eigentlich noch hier? Du hast den ganzen Tag geheult, dass es dir zu heiß ist und du gehen möchtest! Jetzt kannst du nach Hause gehen und gehst nicht!”
- “Was soll ich denn zu Hause?? Mir war ja auch heiß und ich wollt nur raus und wieso kriegen wir nicht hitzefrei??”
“Das habe ich euch doch schon fünf Mal erklärt! Nach dem Zusammenschluss der Haupt- und Realschulen gibt es nur noch Ganztagsschulen. In Ganztagsschulen gibt es kein Hitzefrei! Und es liegt auch leider nicht in meiner Macht, es zu ändern!”
- “Wieso sollen Sie das ändern? Sie kriegen ja auch Geld dafür, weil Sie in so Hitze arbeiten!”
“Ja genau, mein Gehalt richtet sich nach den Temperaturen. Je heißer, desto mehr Geld!”
- “Eeeecht? Aber dann müssen Sie ja Millionen bekommen. Wenn ich da bin, is immer üüübertrieben heiß!!”
“Tschüß Jungs, ich muss jetzt weg!
- “Wer kann dann ändern? Herr Direktor?”
“Auch er nicht.”
- “Ah so, ist es wieder diese Senatsdingsda oder wie die heißen??”
“Genau die.”
- “Wo kann ich die finden? Ich geb dem Nacken! Und sage: ‘Aller, Jungs, macht ma Hitzefrei!’”
“Das würde ich zu gerne sehen! Und jetzt: bis morgen!”
- “Ich schwör, Berliner Schulen sind für’n Arsch!” Leider ja, aber nicht nur deswegen.

Ich will gerade ins Auto einsteigen, da meldet sich Fatih zu Wort.
- “Uhhhh, Mrs. Johnson! Ihr Auto? Was haben Sie bezahlt?”
“Mach zuerst deinen Abschluss, dann können wir über Geld reden. Vorher nicht!”
- “Wissen Sie, Mrs. Johnson, wir haben mega viel gemeinsam!”
“Ah ja?? Was denn??”
- “Wir mögen beide schöne Autos!”
“Schön ist subjektiv.”
- “Was?”
“Nix!”
- “Welche Baujahr? Wie viele PS? Drücken Sie ma auf’s Gas!”
“Jungs, lasst mich doch jetzt einfach nach Hause fahren. Wir sehen uns morgen wieder!”
- “Ok nehmen Sie mich mit??” Can stand die ganze Zeit leise daneben und möchte jetzt auch unbedingt seinen Teil zu der Unterhaltung beitragen.
“Natürlich nicht! Du wohnst doch hier um die Ecke. Laufen tut dir bestimmt gut!”
- “Cüüüs, Mrs. Johnson, warum sind Sie so?”
“Für noch einmal ‘warum sind Sie so’ gibt’s einen Nackenklatscher, verstanden?”
Alle brüllen vor Lachen, nur Can ist wie erstarrt.
- “Aber… aber… das dürfen Sie nicht…” Leider nein. Habe ja auch nicht gesagt, dass die Nackenschelle dann von mir kommt.
Endlich gelingt es mir, ins Auto zu steigen. Ich öffne die Fenster. Sofort steckt Abdul seinen Kopf rein. - “Nackenklatschernverteilerin, oder was??” Ich parke nie wieder am Schultor, auch wenn ich dafür 1 km zur Schule laufen muss!

Dienstag, 22. Mai 2012

Nett und schön


„Von einem guten Kompliment kann ich zwei 
Monate leben.“


Mark Twain

Die Schüler liegen alle halb auf ihren Tischen. Alles ausgezogen, was man nur ausziehen konnte. Betül und Mandy rennen in seeehr kurzen Röckchen und Spaghettiträger-Shirts durch die Gegend. Dejan und Fatih in Muskelshirts. Als ich rein komme, vergleichen sie ihre Oberarme.
- “Aaaaaller, Mrs. Johnson, ich kann nicht mehr von diese Heiß! Ich sterbe!”
“Trink was, Abdul!”
- “Neeein, ich kann dann noch mehr nicht mehr!”
“Ich stehe auch nicht unbedingt auf Hitze und nun?”
- “Wieso machen Sie so?”
“Wieso mache ich was? Die Hitze?”
- “Ja… nein... ich meine, wieso knechten Sie uns so, wenn es so heiß ist? Lassen Sie uns doch gehen! Wenn wir gehen, können Sie doch auch gehen! Ist doch mieseste Deal, was gibt auf die Welt! ” Mittlerweile haben sich Tuncer und Walmir dazu gesellt. Alle drei gucken mich mit einem Hundeblick an.
 “Jungs, ihr wisst doch genau, dass ich genauso hier bleiben muss, wie ihr! Wir müssen da alle gleichermaßen durch.” Ein tiefer Seufzer ist zu hören.
- “Uuuhhh, Zerstörung! Mrs. Johnson hat’s euch gegeben.” Nafisa ist über den Korb der Jungs sichtlich zufrieden. Und ich bin genervt. Hitze und hochunmotivierte Schüler ist nun wirklich keine wünschenswerte Kombi. Hinzu kommt die Tatsache, dass es bis zu den Zeugniskonferenzen nur noch zehn Tage sind. Meine Schüler haben sich also in den Kopf gesetzt, dass Arbeit und Mühe sich sowieso nicht mehr lohnen. Es ist also nur noch pures Entertainment. Ich entertaine vorne die Schüler und sie sind so nett, nicht wegzulaufen und sich entertainen zu lassen. Genauso habe ich es mir vorgestellt!

Plötzlich sehe ich, dass Dejans Hand verbunden ist.
“Dejan, was hast du mit deiner Hand gemacht?”
- “Gar nix.” Ok, ich rieche es. Irgendwas war da nicht in Ordnung.
“Hmmm, der Verband ist also auf deine Hand geflogen und hat sich automatisch um deine Hand gebunden? Nur so, weil es so schön aussieht?!”
- “Nein man. Jemand is gegen meine Faust gelaufen.” Wusste ich es doch. Ich rolle mit den Augen und gebe Dejan somit zu verstehen, dass ich das nicht gutheißen kann.
- “Was gucken Sie denn so? Was kann ich dafür? So ein Spasst ist mir in Geni... tivbereich gelaufen, da muss ich doch reagieren. Wie ein Mann, wissen Sie?”
“Nein, ich weiß es nicht und ich weiß auch nicht, warum du es immer wieder für nötig hälst, deine Fäuste einzusetzen!”
- “Hä? Was soll ich denn sonst machen??”
“Du brauchst eine Portion Vernunft, um runterzukommen von deinem aggressiven Trip!”
- “Maaan, Mrs. Johnson, ich brauch der Gerät! Der Gerät wird nie müde, der Gerät schläft nie ein und schneidet Dönerfleisch schweißfrei!” (Wer das nicht kennt, bei Youtube ‘der Gerät’ eingeben.) Dejan lacht sich kaputt und ich realisiere wieder einmal, dass meine Worte bei ihm einfach nicht ankommen. Auch nicht die Worte jeglicher anderer Personen. Er lässt sich nichts sagen.

Ich wende mich kurz dem Klassenbuch zu und höre, wie Can zu Gülcan irgendwas auf Türkisch sagt. In Sekundenschnelle ist Dejan bei ihm. Er boxt ihn mit voller Wucht in den Oberarm. - “Hör ma auf du kleine Missgeburt, Türkisch zu reden! Ich hass die Sprache, hab ich gesagt!” Dejan, du brauchst kein Gerät, sondern eine Aggressionstherapie! Can schreit kurz auf fängt an, hysterisch zu lachen. Dejan bleibt stehen und boxt immer wieder gegen Cans Oberarm. Als ware der Arm ein Boxsack.
“Dejan! Spinnst du? Warum beleidigst du ihn denn? Er hat dir persönlich doch nichts getan!”
- “Was regen Sie sich so auf? Meinen Sie Missgeburt? Das war doch nur Spaß!”
“Ist dir klar, dass du so eine Anzeige wegen Beleidigung und Körperverletzung kassieren kannst???”
- “Na und? Is mir doch egal! Wenn es ihm gefällt und er lacht! Selba Schuld!” Ja, sehr schön. Nichts einsehen und immer weiter stur auf der eigenen Meinung beharren.
“Mrs. Johnson, ich hab Bauchschmerzen.” Cans Stimmung hat sich wieder zum Heulen gewandelt.
“Warum hast du denn jetzt Bauchschmerzen? Wenn überhaupt, dann sollte doch dein Arm schmerzen! Wobei Bauchschmerzen solltest du auch haben und zwar, weil du schon wieder in der Schule Türkisch sprichst! Du weißt ganz genau, dass das in der Schule verboten ist! Abgesehen von dem unhöflichen Verhalten, das du damit zeigst!”
- “Aber wenn es mir rausrutscht?”
“Was heißt denn hier ‘rausrutscht’? Meine Muttersprache rutscht mir auch nicht einfach so raus! Und wenn mindestens eine dritte Person im Raum ist, die die Sprache nicht versteht, wird natürlich Deutsch gesprochen!!! Oder Englisch! Hier sind mehrere Personen im Raum, die kein Türkisch verstehen!” Can guckt zu Boden.
- “Aber Mrs. Johnson, ich hab immer noch Bauchschmerzen…”
Dejan schreit: - “Is doch normal, der hat öfters seine Tage. Is dein Tampon voll, du Knecht?”
“Ok, Dejan, es reicht, geh mal kurz vor die Tür und schnauf paar Mal durch!” Dejan gehorcht. Kurz vorm Rausgehen sagt er: “Sie sind trotzdem eine voll nette und schöne Lehrerin!”
“Zu dir wahrscheinlich zu nett!”
- “Trotzdem. Ich lieeeebe es, wenn Sie nett sind!” Na dann. Thanks for entertaining, Mrs. Johnson.

Montag, 21. Mai 2012

Cheeeese


“Mach sichtbar, was vielleicht ohne dich nie 
wahrgenommen worden wäre.”

Robert Bresson

Hektik. Aufregung. Noch mal Hektik. Ahhhh, der Fotograf kommt. Mädels schminken einander. Jungs versuchen sich zu fünft in einen Spiegel der Mädchen zu quetschen. Nur Fatih sitzt auf seinem Platz und ist eindeutig sauer.
- “Aller, Mrs. Johnson, wieso sagen Sie nicht, dass die heute Fotos machen??”
- “Du Opfer, hat sie 5 Mal oder so gesagt. Putz dir ma die Ohren. Opfer!”
“Danke Umut, wenigstens einer, der mir zuhört. Und ja, ich hab es sogar an die 10 Mal gesagt, dass der Fotograf kommt!”
- “Jaaa, machen Sie mich fertig! Hat jemand ein Hemd für mich?” Fatihs Frage bleibt unbeantwortet. Der Jogginganzug von Adidas muss auch für’s Foto reichen.
“Komm Fatih, Kopf hoch. Wenn du nett lächelst, guckt doch keiner auf deine Kleidung!”
- “Nett lächen, nett lächeln… Seit wann lächele ich denn nett? Dann denken alle, ich wär schwul!” Message verstanden. Ich lasse dich jetzt einfach in Ruhe. Lächel doch, wie du willst! Oder eben gar nicht!
“Ihr habt noch fünf Minuten Zeit, beeilt euch bitte mit der Beauty-Farm!”
- “Was fünf Minuten? Mrs. Johnson, is Ihr Ernst? Ich muss noch Augen schminken!” Wie, noch Augen schminken? Die leuchten doch schon in knallblau…
“Betül, deine Augen sind ausreichend geschminkt, du musst sie doch nicht anmalen!”
- “Nein man, auf Foto sieht’s voll scheiße aus, muss glänzen, wissen Sie?” Im selben Moment nimmt Betül eine Hand voll Glitzerzeug und schmeißt es sich gegen die Augen. Ich schätze, mindestens die Hälfte des Inhalts landet auf dem Boden.

Endlich sehen alle wie Models aus. Quasi Models. Zuerst soll ein Klassenfoto gemacht werden. Draussen sind Bänke und Stühle aufgebaut. Die Großen sollen nach hinten auf die Bänke und die kleinen sich vorne auf die Stühle setzen. Nach einer Minute gescheiterten Positionierens, fängt die ziemlich junge Fotografin an, mir leid zu tun. Doch, sie lässt nicht locker. Allerdings geht ihre zarte Stimme im Gebrüll unter. Lukas fliegt alle zwei Sekunden von der Bank und nimmt seine Nachbarn mit. Isabel schreit immer wieder: - “Dejan, du Spasst, zieh mich nicht an den Haaren. Mein Kopf fliegt gleich weg.” Dejan schreit zurück: - “Ich mach doch nix, das war Deniz.” Deniz schubst die ganze Zeit Melissa, die natürlich als Reaktion auch schreien muss. Ich fühle mich, wie im Stadion. Dann setze ich meinen Kaserenton an und für zwei Minuten wird es auch endlich ruhig. Ohne Kasernenton geht gar nichts. Die Fotografin fährt fort.
- “Du da, im karrierten Hemd, geh runter. So wie ich es dir gleich gesagt habe.”
- “Du im roten Pulli, dreh dich halb nach rechts!” Max deht sich nach links und steht mit dem Rücken zur Kamera. Es ist zum Verzweifeln.
- “Du mit dem Rock, setz dich hin. Da steht extra dafür ein Stuhl!”
Ich weiß nicht, wie es bei anderen Klassen gelaufen ist, aber ich bin mir sicher, dass wir den Zeitrekord furs Gruppenfoto aufgestellt haben. Ich bin genervt und stelle wieder einmal fest, dass wir am Benehmen vor und mit anderen Menschen noch arbeiten müssen. Immer wieder.

Endlich können Einzelfotos geschossen werden. Isabel bekommt von dem zweiten Fotografen die Klassenliste in die Hand. Sie muss die Schüler nach der Reihenfolge aufrufen und sie abhacken.
- “Oh Gott, Mrs. Johnson, ich schaff das nicht!”
“Doch doch, das kriegst du schon hin!” Und tatsächlich, Isabel kommt mit der Geschwindigkeit des Fotografen kaum mit, gibt jedoch nicht auf.
Fatih kommt vom persönlichen Fototermin empört zurück.
- “Was das? Hat dieser Opferfotograf 1€ gekostet? Der behinderte…  Der hat nicht mal 1,2,3 oder so gesagt! Nur so: ‘jetzt!’ Und hat sofort Klick gemacht. Ich konnt mich gar nicht richtig vorbereiten. Ich geb dem Nacken!” Hoffentlich ist der Fotograf so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er das alles hier nicht mitbekommt.
- “Mrs. Johnson, soll ich Foto mit oder ohne Haargummi machen?” Mandy steht sichtlich aufgeregt vor dem Spiegel und kann sich nicht entscheiden.
“Auf jeden Fall mit offenen Haaren! Sieht doch besser aus!”
- “Ok danke, Mrs. Johnson. Sie haben mich gerettet, ich wusste echt nicht!”
Endlich sind alle durch und ich mache in Gedanken drei Kreuze. Der Fotograf holt Gülcan zu sich. Sie soll sich alle Fotos noch mal anschauen und sagen, ob nicht jemand vergessen wurde. Gülcan kommt aber nicht alleine. Mit ihr gehen, Max, Betül, Jocelyn, Dejan, Abdul und Bülent. Der Fotograf wiederholt noch einmal, dass er die Aufgabe nur Gülcan anvertrauen möchte. Auschließlich Gülcan. Er wiederholt es noch mal und noch mal. Beim fünften Mal hat es auch Betül verstanden. Beim Weggehen schreit sie: - “Ey Gülcan, guck mal, ob ich scheiße aussehe und sag mir dann!” Gülcan nimmt sie nicht wahr, sie ist bereits ganz vertieft in die Fotos…