Samstag, 31. Mai 2014

Hätten Sie doch Physik und Musik studiert!

"Die Wertschätzung von Köln für den Dom zeigt sich daran, dass sie ihn mit etwas weniger bezuschusst, als der Karnevalszug erhält."
Bernhard Heinrichs


Es ist noch früh, aber ich kann nicht schlafen. Zu viel ist gerade los. In meinem Kopf und in meinem Leben. Jetzt ist es endlich soweit, ich muss schreiben. Ich muss Dinge loswerden, die nicht gehen. Dinge, die soweit vom Pädagogischen entfernt sind, wie Canberra von Berlin. Jedoch Dinge, die sich mitten in der Pädagogik abspielen. 
Ich gehe weg aus Berlin. Nicht freiwillig, aber doch gerne. "Wie soll ich Sie bloß ersetzen?" fragte mein Schulleiter. "Sie können doch nicht gehen! Wieso machen Sie so? Ich besorge Ihre Mann Arbeit in Berlin!" sagten die Schüler.
In Berlin gab es für meinen Mann keinen Job und für mich gab es keine Möglichkeit, in seinem Heimatbundesland zu arbeiten. Es warum zum Verzweifeln. Für Ehepartner in einer Stadt zusammenziehen, das ist noch schwieriger, als "Ja" zu sagen. So viele Hürden. Wir suchten eine dritte Stadt, in der wir beide eine Arbeit finden könnten.
Es geht nach Hamburg. Eine Großstadt. Mit vielen problematischen Schülern. Mit Bedarf für Lehrer. Dachte ich. 
"Ich habe einen Job." verkündete mein Mann freudestrahlend.  Es war am Telefon, trotzdem konnte ich die Freude und das Strahlen durch den Hörer fühlen. Endlich, dachte ich. Endlich werden wir jeden Tag nebeneinander aufwachen. Nicht nur am Wochenende. Ohne hunderten von Kilometern zwischen uns. Hamburg, dachte ich, das ist eine Stadt, in der ich auf jeden Fall einen Job finden werde. "Schatz, ich unterschreibe dann? Du bist sicher, dass du einen Job in Hamburg finden wirst?"
"Klar," sagte ich. Kurze Antwort aus voller Überzeugung. Ich dachte, ich bin eine gute Lehrerin, ich liebe und lebe meinen Job. Ich bin engagiert, immer mit dem Herzen dabei, jung, habe viele tolle Ideen. Ich arbeite mich in fremde Fächer ein, ich habe einen gewissen Anspruch an meinen Unterricht und an die pädagogische Arbeit, die in unserem Alltag fast wichtiger ist als Synapsen, Kriege und Kurvendiskussionen. Ich arbeite gerne mit schwierigen Jugendlichen, ich kann etwas bewegen. Ich dachte, wenn man mit problematischen Jungen und Mädchen arbeitet, dann ist es egal, welche Fächer man vorweisen kann.
Ich dachte eindeutig zu viel, ich habe nämlich einen Fehler gemacht. Ich habe nach meinem Interesse, nicht nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes studiert. Kein Hauptfach, Fächer, die jeder unterrichten kann. 
Die Jobsuche, die ist hart und unmenschlich. Arrogante Schulleiter, die mir sagen: "Hätten Sie doch Physik und Musik studiert!" Oder: "Tja, wird schwierig, mit Ihren Fächern in den Dienst zu kommen. Wenn Sie dann drin sind, dann ist es vollkommen egal, welche Fächer Sie unterrichten." Ah so, na dann. Oder aber: "Wir wissen, dass wir eine gute Schule sind, wir brauchen keine Lehrer mit solch einer Fächerkombinaton!" Ja, aber braucht eine gute Schule nicht auch gute Lehrer? Keine Chance. Kein Vorstellungsgespräch. Nur Absagen. Standartabsagen. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht... blabla... viele qualifizerte Bewerbungen... blabla... das Übliche. Verdammt, will ich schreien, machen Sie sich doch ein Bild von mir! Laden Sie mich doch wenigstens zum Gespräch ein! Dann können Sie immer noch absagen. Nein. Kein Gespräch. Ich fühle mich wie ein Mensch zweiter Klasse. Unfair ist es. Ein Mathe- und Physiklehrer kann der schlechteste Pädagoge dieser Welt sein. Das interessiert keinen. Er wird sofort angestellt, Schulen werden sich um ihn streiten. Schließlich hat er zwei Bedarfsfächer studiert. Schließlich ist er ein vollwertiger Mensch.

Wen es hier interessiert, wie es meinen Schülern geht, es geht ihnen gut. Jeder von ihnen macht dieses Jahr seinen Abschluss. Jeder hat es geschafft. Manche nur den Hauptschulabschluss, manche auch den Realschulabschluss. Viele haben einen Ausbildungsvertrag. Auch ist jemand dabei, der auf die gymnasiale Oberstufe wechselt und das Abitur macht. Alles Schüler, an die vorher kein Mensch geglaubt hat. Ich schon. Vielleicht glaubt auch jemand in naher Zukunft an mich. Schön wäre es.